Die systematische Ermordung von Menschen mit Behinderung

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Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges begannen auch die „NS-Krankenmorde”. Damit ist, nach den systematischen Zwangssterilisationen, die Tötung von Menschen mit Behinderung und von psychisch, schwer körperlich oder unheilbar Kranken gemeint. Der NS-„Rassenhygiene“ nach musste die „Erbgesundheit“ des deutschen Volkes geschützt werden. Es durfte daher keinen Platz geben für Menschen, die die „Erbgesundheit“ angeblich gefährdeten. Aber auch aus einem anderen Grund wollte das Nazi-Regime sie los werden: Sie kosteten den Staat Geld, und das für die Gesundheit und Pflege der bedürftigen Menschen auszugeben, lehnte der Staat ab. Das Nazi-Regime bezeichnete die Betroffenen, oder die, die es als solche identifizierte, als „unwertes Leben“ oder „Ballastexistenzen“. Zynisch sprach das Nazi-Regime auch von “Euthanasie”, um es so darzustellen, als sei der Tod für die Betroffenen eine Gnade gewesen. Der Begriff „Euthanasie“ kommt aus dem Altgriechischen und meint eigentlich „Sterbehilfe“.

Die “Aktion T4”

Den Befehl für die Ermordungen gab Hitler selbst im Oktober 1939. Er unterzeichnete einen Erlass, in dem es heißt, dass Menschen „bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustands der Gnadentod gewährt“ werden könne. Beauftragt wurden der Leiter der „Kanzlei des Führers” (KdF) Philipp Bouhler und Hitlers Leibarzt Karl Brandt. Nach Herausgabe des Erlasses begannen die Täter damit, im Geheimen Strukturen zu schaffen, die die systematischen und grausamen Massenmorde erst möglich machten. Dazu wurden Tarnorganisationen gegründet, wie z. B. die “Reichsarbeitsgemeinschaft Heil und Pflegeanstalten”, die u. a. die ärztliche Gutachtertätigkeit koordinierte. Die Zentraldienststelle befand sich in der Berliner Tiergartenstraße 4. Diese Adresse wurde auch als Tarnname für die NS-Krankenmorde genutzt. Sie wurden daher auch bekannt als “Aktion T4”.

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DIE TÖTUNGSANSTALTEN

Es gab sechs Tötungsanstalten im damaligen Deutschen Reich: Brandenburg an der Havel, Hadamar bei Limburg, Grafeneck, Sonnenstein/Pirna, Hartheim bei Linz und Bernburg an der Saale. Auch in den besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion wurden Krankenmorde durchgeführt. Hier zu sehen ist das Personal der Tötungsanstalt Hartheim.

Die Ermordung von erkrankten Kindern
und Jugendlichen

Im August 1939 begann mit einem geheimen Runderlass des Innenministers die Selektion von Kindern bis zum Alter von drei Jahren. Nach dem offiziellen Ende der “Aktion T4” im Jahr 1941 wurde die Altersgrenze auf 16 Jahre angehoben. Hebammen und Ärzt:innen wurden verpflichtet, Kinder mit bestimmten Krankheiten und Behinderungen zu melden. Diese Anweisung leitete den systematischen Massenmord an Kindern und Jugendlichen ein, auch bekannt unter der Bezeichnung “Kindereuthanasie”. Nach der Meldung entschieden drei Gutachter des “Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden” über das weitere Schicksal der Kinder.
Diejenigen, die sich bei ihren Familien befanden und nicht bereits in Pflegeeinrichtungen, wurden zwangsweise in sogenannte “Kinderfachabteilungen” eingeliefert.

Die Existenz von mindestens 30 solcher Einrichtungen in Deutschland und Österreich ist belegt. Die Behörden machten den Eltern Hoffnung, dass ihre Kinder dort bessere Heilungschancen hätten. Doch stattdessen wurden die Kinder mangelhaft verpflegt, misshandelt und für Experimente missbraucht. Kinder, die die Mediziner:innen als “bildungsunfähig” und/oder “arbeitsunfähig” beurteilten, hatten schlechte Überlebenschancen. Das Personal vergiftete sie mit Schlafmitteln oder ließ sie durch Nahrungsentzug absichtlich verhungern. Heute geht man von mindestens 5.000 und möglicherweise bis zu 10.000 ermordeten Kindern und Jugendlichen aus. Die korrekte Opferzahl ist aus mehreren Gründen schwierig zu bestimmen: Den Nationalsozialist:innen war von Anfang an daran gelegen, die Morde an den Kindern und Jugendlichen zu vertuschen. Aus diesem Grund enthalten Dokumente, die die Morde belegen könnten, oft falsche Angaben. Bei Kriegsende wurden viele Dokumente gezielt vernichtet. Zudem mordete das medizinische Personal auch ohne die Anweisung des Reichsausschusses.

Unruhe in der Bevölkerung

Die “Euthanasie”-Morde wurden im Geheimen durchgeführt, sie sollten in der Bevölkerung nicht bekannt werden. Die Täter:innen verschleierten, wo sich die zur Tötung bestimmten Menschen wirklich aufhielten, um die Angehörigen daran zu hindern, sie zu besuchen. Die tatsächlichen Todesursachen wurden verschwiegen.

Den Angehörigen wurde oft einfach mitgeteilt, dass das Opfer plötzlich verstorben sei. Die Leichen wurden eingeäschert, damit niemand auf die Idee kommen konnte, die Körper nach dem Tod zu untersuchen. Doch mit der Zeit wurden immer mehr Angehörige misstrauisch. Oft passten die fingierten Todesursachen gar nicht zur Krankheitsgeschichte der Verstorbenen. Irgendwann verbreiteten sich Gerüchte über die systematische Ermordung in der Bevölkerung.

Auch die britische Regierung trug dazu bei, dass die deutsche Bevölkerung mehr über die “Euthanasie”-Morde erfuhr: Die Royal Air Force warf im September 1941 Flugblätter über Deutschland ab, die über die Krankenmorde aufklärten.

Hier zu sehen ist ein Auszug aus dem Sterberegister der Tötungsanstalt Hadamar, in das die Verstorbenen mit Angaben zum Todestag und der Todesursache eingetragen wurden. Die Todesursachen in diesem Dokument sind fingiert. In Wirklichkeit wurden die Menschen in Gaskammern, durch Giftinjektionen oder absichtliche Unterversorgung ermordet

Hadamar Sterberegister

Protest von katholischen Kirchenvertretern

Wirklicher Protest gegen die “Euthanasie”-Morde entstand jedoch nicht nur aus der Mitte der Bevölkerung heraus, sondern ging von katholischen Kirchenvertretern aus, die sich in Briefen an verschiedene Reichsminister wendeten. Besonders bekannt für seinen offenen Protest wurde der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen. Er hielt am 3. August 1941 eine Predigt, die für viel Aufsehen sorgte. Es gab solche Unruhe in der Bevölkerung, dass Hitler am 24. August 1941 den Befehl gab, die “Aktion T4” zu beenden. Aber das bedeutete nicht, dass die Morde endeten.

Bischof Clemens August Graf von Galen in der Predigt vom August 1941: „Nein, hier handelt es sich um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern. Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen. Aber haben sie damit das Recht auf das Leben verwirkt? Hast du, habe ich nur solange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden?”

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Die zweite Phase der NS-Krankenmorde
seit Sommer 1941

Nach dem offiziellen Ende der “Aktion T4” gingen die “Euthanasie”-Morde weiter, man bemühte sich nur mehr darum, sie unauffälliger durchzuführen. Die Tötung Erwachsener mit Behinderung wurde fortan dezentral in Heil- und Pflegeanstalten durchgeführt. Die Menschen wurden ermordet, indem man Medikamente absichtlich überdosierte, tödliche Injektionen verabreichte oder sie durch Unterernährung absichtlich verhungern ließ.

Diese Methoden hatte man in den Augen der Nazis in der sogenannten “Kinder-Euthanasie” erfolgreich erprobt. Die “Kinder-Euthanasie” wurde auch nach dem Ende der “Aktion T4” völlig unberührt weiter fortgesetzt. Insgesamt wurden ca. 250.000 Menschen mit Behinderung ermordet.

Die “Aktion 14f13” und die Grundsteinlegung zum systematischen Massenmord

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Zur selben Zeit stellte sich für das NS-Regime ein neues Problem: Die überfüllten Konzentrationslager. Reichsführer SS Heinrich Himmler, in dessen Verantwortung es lag, dieses Problem zu lösen,wandte sich an Philipp Bouhler, der den systematischen Massenmord der “Aktion T4” organisiert hatte. Bald besuchten ehemalige Mitarbeiter der “Aktion T4” Konzentrationslager, um die SS bei der Selektion von erkrankten, arbeitsunfähigen oder anderweitig “unerwünschten” KZ-Häftlingen zu unterstützen. Dabei kamen erneut die Fragebögen zum Einsatz, die im Rahmen der “Aktion T4” entwickelt und verwendet worden waren. Die zum Tode bestimmten KZ-Häftlinge wurden zu Beginn in die drei Tötungsanstalten der “Aktion T4” Bernburg, Pirna-Sonnenstein und Hartheim deportiert und dort vergast. Diese Aktion wurde bekannt unter ihrem Aktenzeichen: “Aktion 14f13”.

Erst im Zeitverlauf verzichtete man darauf, die Menschen in die Tötungsanstalten zu deportieren, sondern ermordete sie in Vernichtungslagern, in denen man eigene Gaskammern und Krematorien errichtet hatte, wie Auschwitz, Sachsenhausen und Mauthausen. Damit war mit der “Aktion T4” der Grundstein gelegt worden für die systematische und massenhafte Ermordung nicht nur von Menschen mit Behinderung, sondern auch von Jüdinnen:Juden, Sinti:zze und Rom:nja, und Menschen aus allen anderen Verfolgtengruppen.

Die Aufarbeitung der NS-”Euthanasie” in der Nachkriegszeit

Die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-”Euthanasie”-Morde verlief aus der Sicht von Opfervertreter:innen insgesamt sehr enttäuschend. In einer Phase kurz nach Kriegsende, in der die Prozesse vor der Gründung der Bundesrepublik noch unter der Gerichtsbarkeit der Alliierten stattfanden, kam es zu Verurteilungen und auch zu Todesurteilen. So wurden beispielsweise im „Nürnberger Ärzteprozess” mit Viktor Brack und Karl Brandt zwei Hauptverantwortliche der “Aktion T4” bzw. der NS-”Euthanasie” zum Tode verurteilt. Doch in späteren Prozessen, nach Gründung der Bundesrepublik, fielen die Urteile deutlich milder aus und es kam häufig zu Freisprüchen. Von den Täter:innen wurde nach 1949 niemand wegen Mordes verurteilt. Viele Ärzt:innen und medizinisches Personal, die an den NS-Krankenmorden und Medizinverbrechen beteiligt gewesen waren, konnten in der Bundesrepublik ungehindert in ihren Berufen weiterarbeiten.

Ebenso verletzend für die durch Medizinverbrechen wie Zwangssterilisation geschädigten NS-Verfolgten und auch die Hinterbliebenen von Opfern der NS-”Euthanasie” ist die Tatsache, dass “Euthanasie”-Geschädigte bis heute nicht durch das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt wurden. Sie hatten demnach keine Möglichkeit, aufgrund dieses maßgeblichen Gesetzes eine finanzielle Entschädigung zugesprochen zu bekommen. Auch wenn es seit 1988 die Möglichkeit gibt, im Rahmen der Härterichtlinien zum Allgemeinen Kriegsfolgengesetz (AKG-HR) Entschädigungszahlungen zu erhalten, empfinden sich Zwangssterilisierte und “Euthanasie”-Geschädigte zu Recht als Opfer zweiter Klasse.

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Erinnerung an die Opfer der NS-Krankenmorde

Erst seit den 1980er Jahren entstanden die ersten Gedenkorte und Erinnerungszeichen für die Opfer der NS-Krankenmorde. Auch an einem zentralen Ort der NS-Krankenmorde, der Tiergartenstraße 4 in Berlin Mitte, an dem in der NS-Zeit die Zentraldienststelle der “Aktion T4” bestand, war seit 1989 eine Gedenktafel angebracht. Im Jahr 2014 wurde dort ein modernes Denkmal eröffnet, das Informationen und den Raum zur Erinnerung an die Opfer anbietet. Auch das „Denkmal der Grauen Busse“ erinnert besonders an diese Verfolgtengruppe. Die „Grauen Busse“ sind in Beton gegossen und erinnern an die Busse, mit denen die ahnungslosen Patienten in die Tötungsanstalten deportiert wurden. „Wohin bringt ihr uns?“ steht auf dem Bus geschrieben, eine Frage eines Patienten, die überliefert worden ist. Einer der Busse steht im Zentrum für Psychiatrie Weißenau (der ehemaligen "Heilanstalt Weißenau") in Ravensburg, ein anderes Exemplar steht wechselnd an verschiedenen Orten.

Mehr erfahren: Jakob van Hoddis

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Hans Davidsohn, vielen besser bekannt als Jakob van Hoddis, schrieb Gedichte, die ihn zu einem herausragenden Künstler des literarischen Expressionismus machten. Auf dem Zenit seines Erfolgs erkrankt er – es wird eine Schizophrenie diagnostiziert. Das NS-Regime sieht keinen Nutzen und keinen Wert darin, ihn am Leben zu lassen. Er und seine Mitpatient:innen werden gemeinsam mit jenen Pflegekräften, die sie zuvor noch in der israelitischen Kuranstalt Bendorf-Sayn versorgt hatten, deportiert. Hans wird im Mai oder Juni 1942, wahrscheinlich im Vernichtungslager Sobibor, von den Nationalsozialist:innen ermordet.

Autorin: Lena Knops

BILDQUELLEN

Denkmal der grauen Busse

Elke Wetzing, Denkmal der grauen Busse, Köln 2014, online verfügbar: wikimedia.org, Lizenz: CC BY-SA 4.0.

Hadamar Sterberegister

A page of the Hadamar Institute’s death register in which the causes of death were faked to conceal the euthanasia killings that took place there. United States Holocaust Memorial Museum Photo Archives #76282. Courtesy of National Archives and Records Administration, College Park. Copyright of United States Holocaust Memorial Museum.

Hartheim Bus

Autor:in unbekannt, NS-Tötungsanstalt Hartheim, Abholungsbus mit Fahrer, ca. 1940, online verfügbar: wikimedia.org, Lizenz: CC BY-SA 3.0.

Hartheim Personal

Group portrait of the staff of the Hartheim euthanasia facility relaxing with an accordian. United States Holocaust Memorial Museum Photo Archives #31163. Courtesy of National Archives and Records Administration, College Park. Copyright of United States Holocaust Memorial Museum.

Jakob van Hoddis 1910

Autor:in unbekannt, Jakob van Hoddis, 1910, online verfügbar: wikimedia.org.

Krankenmorde Erlass Hitler

Erlass Hitler adressiert an Reichsleiter Bouhler und Dr. Brandt, NS-Krankenmorde, zurückdatiert 01.09.1939, Nürnberger Prozesse Dokument PS-630, gemeinfrei, online verfügbar: wikimedia.org

Krankenmorde Propagandaplakat

Autor:in unbekannt, Propagandaplakat, publiziert im Monatsheft „Neues Volk“ vom Rassenpolitischen Amt der NSDAP, um 1938, gemeinfrei, online verfügbar: wikimedia.org

Nürnberger Ärzteprozess, Hauptangeklagter Karl Brandt

Autor:in unbekannt, Der Nürnberger Ärzteprozess, Hauptangeklagter Karl Brandt, ca. 1946, gemeinfrei, online verfügbar: wikimedia.org

Porträt Clemens August von Galen

Gustav Albers, Clemens August Kardinal Graf von Galen, undatiert, Bildersammlung des Bistumsarchivs Münster, online verfügbar: wikimedia.org, Lizenz: CC BY-SA 2.5.