1945

HEINRICH DIEHL BEFREIT

Als er sich eines Abends in einer Kneipe angetrunken über die Verfolgung von Kommunisten und Albert Einstein auslässt, wird Heinrich Diehl denunziert und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Einmal in die Mühlen der NS-Justiz geraten, verbringt er neun Jahre lang, bis zu seiner Befreiung aus dem KZ Buchenwald, keinen Tag mehr in Freiheit. Heinrich Diehl war kein Held. Er war auch kein Widerstandskämpfer. Er war ein ganz normaler „kleiner Mann“, dem das, was die Nazis nach der Machtergreifung taten, nicht gefiel, und dem Furchtbares widerfahren ist.

12. Februar 1902

Heinrich Diehl wird in Pfaffen-Schwabenheim, einem Dorf mit rund 600 Einwohnern ganz in der Nähe von Sprendlingen, in Rheinhessen geboren. Vater Wilhelm ist Volksschullehrer, Mutter Caroline ist gelernte Näherin. Heinrich ist das einzige Kind des Ehepaares. Heinrich besucht die Volksschule in Sprendlingen.

1916

Einige Jahre nachdem er einen Schlaganfall erlitten hat, stirbt Vater Wilhelm und so muss Caroline ihren Sohn und sich selbst mit einer kleinen Witwenrente durchbringen. Heinrich geht mittlerweile auf die Realschule nach Alzey und möchte einmal wie sein Vater Volksschullehrer werden. Aber für ein Studium reicht das Geld der Familie nicht.

1920er Jahre

Heinrich (in der Mitte sitzend) bei einem Schwimmausflug mit Freunden, Anfang der 1930er Jahre

Heinrich besucht die Höhere Handelsschule in Mainz und schließt die Schule mit einem Handelsabitur ab. Dann beginnt er eine Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Landesgenossenschaftsbank Trier und eine Tätigkeit als Kontokorrentbuchhalter beim Bankhaus Julius Geiss in Boppard. Aber er kündigt nach nur ein paar Monaten und bekommt erst im August 1925 wieder eine Arbeit, diesmal beim Feldbereinigungsamt in Sprendlingen. Fünf Jahre später, im September 1930, wird Heinrich gekündigt. Er ist jetzt, wie so viele andere Menschen in Deutschland, arbeitslos.

Arbeitslos und ohne Perspektive
– Nährboden für die Nationalsozialisten

Sammlung-fuer-Arme-und-Arbeitslose-1931
Sammlung für Arme und Arbeitslose, 1931

Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland stieg zu Beginn der Dreißiger Jahre des
Zwanzigsten Jahrhunderts auf 5,6 Millionen an – Heinrich Diehl, nun dreißig Jahre alt und beruflich bereits zweimal gescheitert, gehörte zu ihnen. In diesem Klima der Perspektivlosigkeit war die NSDAP bis zum Ende der zwanziger Jahre im Deutschen Reich eine ernstzunehmende politische Kraft geworden. Die Reichstagswahl vom November 1930 brachte die NSDAP auf den zweiten Platz hinter der SPD mit über 18% der abgegebenen Stimmen und 107 Sitzen im Reichstag. Ihre Mitgliederzahl verdoppelte sich zwischen 1930 und 1931 auf mehr als 800.000. Ihre Mitglieder gewann die NSDAP aus vorwiegend mittelständischen Schichten, die von Orientierungs- und Statusverlusten bedroht waren und die sich von der radikalen Agitation der Hitler-Bewegung gegen „Versailles“ und den Weimarer Staat angezogen fühlten.


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Frühjahr 1931

Heinrich (ganz rechts, stehend) in einer großen Gruppe bei einem sommerlichen Ausflug in den 1930er Jahren. Einer der Männer trägt die Parteiuniform der Nationalsozialisten.

Nach rund einem halben Jahr in der Arbeitslosigkeit, lässt sich Heinrich davon überzeugen, in die Sprendlinger Ortsgruppe der NSDAP einzutreten. Er tritt zum 1. Juni 1931 ein und erhält die Mitgliedsnummer 651.269. Ortsgruppenleiter ist der Großbauer Friedrich Bernhardt, der in Sprendlingen “der Lange” genannt wird. Heinrich erledigt Schreibarbeiten für den sprachlich nur wenig gewandten Bernhardt und teilt das nationalsozialistische Kreisblatt in den umliegenden Ortschaften aus.

September 1933

Heinrich (2.v.l.) bei einem Ausflug mit Freunden im Winter 1933

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten verbessert sich zunächst Heinrichs sozialer Status. Denn dadurch, dass er so früh Mitglied der NSDAP geworden ist, gilt er nun als ein “Alter Kämpfer”. Das hilft ihm dabei, im September seine alte Arbeitsstelle beim Feldbereinigungsamt wiederzuerlangen. Dort arbeitet er jetzt als Mess- und Schreibgehilfe. Doch mit der Partei will er zu diesem Zeitpunkt längst nichts mehr zu tun haben. Schon vor der Machtübernahme hat Heinrich Bedenken gegenüber dem Nationalsozialismus geäußert, und das ist aufgefallen. In der Ortsgruppe hat man Zweifel an der “politischen Zuverlässigkeit” von Heinrich und hält ihn von einem Aufstieg in politische Ämter lieber fern.


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6. Januar 1935

Heinrich (sitzend) mit Kollegen im Feldbereinigungsamt Bingen, 1933-1935. Im Hintergrund ist ein Portraitfoto von Adolf Hitler aufgestellt worden.

Das hessische Staatsministerium verfügt über Heinrichs sofortige Entlassung aus dem Feldbereinigungsamt. In der Begründung heißt es: „Der Mess- und Schreibgehilfe Heinrich Diehl erklärte, dass er für die paar Pfennige nicht arbeiten würde und ihm die Bezahlung zu gering sei. Er zerriss hierbei sein Tagebuch und steckte es ins Feuer und erklärte, den Saftladen nicht mehr zu betreten. Diehl ist im letzten Monat 9 ½ Tage meistens ohne Entschuldigung vom Dienst ferngeblieben. Auch hat er in den letzten zwölf Monaten seinen Dienst sehr vernachlässigt.“

21. Mai 1935

Heinrich wird durch Beschluss des Parteigerichts Alzey West wegen „parteischädigenden Verhaltens“ aus der NSDAP ausgeschlossen. Wie genau es zum Ausschluss kam, ist nicht ganz nachvollziehbar, da nicht alle Unterlagen überliefert sind. Wahrscheinlich ist, dass Heinrich seine innere Distanz zur Partei nicht für sich behalten konnte – er muss darüber gesprochen haben, und seine Ansichten sind der Parteileitung offensichtlich bekannt geworden.

29. September 1935

Gastwirtschaft „Bauernschänke“, vormals „Rosskopf“ in Sprendlingen, 2009

Ein gutes Vierteljahr nach dem Parteiausschluss, sitzt Heinrich am späten Sonntagnachmittag mit Bekannten in der Sprendlinger Kneipe „Rosskopf“, wo es Freibier gibt. Er ist wohl leicht angetrunken, als ein wandernder Handwerksbursche den Schankraum betritt und Heinrich ihn mit den seltsamen Worten: „Bruder der Landstraße, unser Dasein ist die Landstraße und Russland ist die Heimat“ begrüßt. Der Handwerksbursche will Heinrichs dargebotene Hand nicht schütteln und verschwindet rasch wieder.

Es bleibt aber wohl nicht bei dieser Äußerung – Heinrich schwadroniert über Albert Einstein und seinen Beitrag zur Luftfahrt. Er bedauert, dass man diesen hervorragenden Kopf aus Deutschland weggeekelt hat, und meint zum guten Schluss, dass man in Deutschland den in den Gefängnissen eingesperrten Kommunisten zum Anschein die Flucht ermöglicht, um sie dann von hinten zu erschießen. Das alles ist so genau bekannt, weil ein aufmerksamer Sprendlinger Bürger, der Gärtner, Parteigenosse und SA-Scharführer Karl Johann Schnell, diese Reden einen Tag später bei Ortsgruppenleiter Bernhardt anzeigt.

4. Dezember 1935

Nicht nur Heinrich hielt ihn für einen “hervorragenden Kopf”: Albert Einstein entschied sich im März 1933, noch an Bord der SS Belgenland, die ihn zurück nach Europa bringen sollte, nicht mehr nach Berlin zurückzukehren. Er immigrierte in die USA.

Heinrich ist denunziert worden. Er wird verhaftet und verhört. In seiner Vernehmung gibt Heinrich die wesentlichen Punkte zu: Ja, er habe den Handwerksburschen in diesem Sinne angesprochen, ja, er habe gesagt die Theorien des “Juden Einstein” hätten auch heute noch in der Luftfahrt Geltung („Ich wollte mich mit diesen Worten aber nicht als Judenfreund hinstellen…“), ja, es könne sein dass er gesagt habe, man habe Einstein aus Deutschland hinausgeekelt – er könne sich aber beim besten Willen nicht darauf besinnen, irgendetwas über Kommunisten in deutschen Haftanstalten gesagt zu haben. Er versucht, seine Aussagen zu bagatellisieren und betont auch seine frühere NSDAP-Mitgliedschaft. Die Gestapo ist nicht überzeugt. Heinrich wird in Mainz in Untersuchungshaft genommen.

6. Dezember 1935

Schon zwei Tage nach seiner Verhaftung steht Heinrich wegen eines Verstoßes gegen das “Heimtücke-Gesetz” vor Gericht. Er wird beschuldigt, „vorsätzlich eine unwahre Behauptung tatsächlicher Art aufgestellt zu haben, die geeignet ist, das Ansehen der Reichsregierung und das der NSDAP schwer zu schädigen“. Einziger Punkt der Anklage: Heinrichs Aussagen über die Kommunisten in deutschen Haftanstalten, zu denen er angab, sich nicht an sie erinnern zu können. Die Zeugenaussagen des Denunzianten Schnell und zweier weiterer Zeugen genügen dem Gericht. Heinrich wird für schuldig befunden und zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten verurteilt.


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Das “Heimtücke-Gesetz”

Das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen“ vom 20. Dezember 1934 geht auf eine Verordnung vom März 1933 zurück, die noch der damalige Reichspräsident Paul von Hindenburg unterschrieben hat. Zeitgleich mit der Verordnung wurden Sondergerichte gebildet, die für die Aburteilung der Beschuldigten zuständig sein sollten. Das der Abschreckung dienende Gesetz, das jegliche kritische Äußerung sanktionierte, war höchst erfolgreich – tausende von Denunziationen, die oft genug, wie im Fall von Heinrich Diehl, zu Haftstrafen führten, machten der Bevölkerung deutlich, dass es besser ist, den Mund zu halten.

Heimtückegesetz §1
Ausschnitt aus dem Heimtückegesetz von 1934

25. April 1936

Stimmzettel zur Reichstagswahl 1936 mit nur einer “Wahlmöglichkeit”. Bei dieser Scheinwahl stand das Ergebnis von vornherein fest.

Heinrich wird bereits sechs Wochen vor dem eigentlichen Ende seiner Gefängnisstrafe aus der Haft in Zweibrücken entlassen. Grund für seine vorzeitige Entlassung ist eine Amnestie, die Hitler anlässlich der Wahl vom 29. März 1936 – bei der nur Hitler selbst und die NSDAP zur Wahl standen und folglich auch 99% der Stimmen erhielten – verfügt. Die Amnestie gilt u.a. für leicht bestrafte Kleinkriminelle und Personen, die wegen leichterer Vergehen gegen das „Heimtücke-Gesetz“ inhaftiert waren, und darunter fällt auch Heinrich.

Selber Abend

Seine Haftentlassung feiert Heinrich mit reichlich Alkohol. Zuerst will er seinen Freund Hans besuchen, doch als dieser nicht zu Hause ist, trinkt er alleine. Er fährt herum und sucht mehrere Lokale auf, trinkt Cognac, Bier und Wein. Seine letzte Station ist die Gastwirtschaft “Sturmbillig” in Neunkirchen. Heinrich ist mittlerweile schwer alkoholisiert. Um zwei Uhr nachts fällt er zwei Polizeibeamten in zivil auf, die verdeckt ihre Runde drehen. Heinrich fängt mit den beiden Polizisten ein Gespräch an und sagt unter anderem, “dass es in Deutschland so nicht weitergehen kann“. Das reicht aus für eine Verhaftung und eine Anklage wegen “Vorbereitung zum Hochverrat”.

27. Oktober 1936

Gesichtsmaske für Strafgefangene in Einzelhaft, Berlin-Moabit. Die Maske sollte den Inhaftierten vor seinen Mitgefangenen unkenntlich machen.

Heinrich wird vor dem Volksgerichtshof in Berlin wegen “Vorbereitung zum Hochverrat” angeklagt. Schon eine Woche vor seinem Gerichtstermin ist er in das Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit verlegt worden und sitzt dort in Einzelhaft. Heinrich schreibt seiner Mutter, dass er keine Angst vor der Verhandlung hat. In der Hauptverhandlung beruft er sich auf seine Trunkenheit und behauptet, sich an nichts von dem, was ihm zur Last gelegt wird, mehr erinnern zu können. Doch der Senat ist entschlossen, Härte zu zeigen. Heinrich wird zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt.


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24. November 1936

Heinrich trifft nach einer kurzzeitigen Inhaftierung im Strafgefängnis Tegel zur Verbüßung seiner restlichen Haftstrafe im Gefängnis Zweibrücken ein. Er schreibt seiner Mutter viele Briefe, um die er sich im Gefängnis sitzend, sehr sorgt. In einem der Briefe beschreibt er seinen Haftalltag so:

„Früh um 5 werde ich wach, 5:30 erschallt aus der nahegelegenen Kaserne der Weckruf, 5:45 allgemeiner Aufstand im Gefängnis, 6:15 Kaffeeempfang nebst 170 g Schwarzbrot, 7:00 Arbeitsbeginn, 9:30-10:30 Spaziergang – d.h. im Gefängnishof hintereinander gehen im Abstand von 2 m ohne zu sprechen, 12:00 Mittagessen. Dies besteht ebenfalls aus 170 g Brot und dazu z.B. eine steife Gurkensuppe. Ich sehe dich jetzt schon im Geist, wie du an diesem Wort herumbuchstabierst, aber ich kann dir versichern, wenn man Hunger hat und den habe ich, schmeckt sie ausgezeichnet.“

27. Oktober 1937

Lagertor des KZ Buchenwald mit dem zynischen Schriftzug “Jedem das Seine”

Heinrich hat seine Haftstrafe abgesessen. Er geht fest davon aus, zu seiner Mutter zurückkehren zu dürfen. In seinen letzten Briefen fragt er sie, wie es um den Obstgarten bestellt ist, und dass er sich so sehr freut, endlich wieder in einen Apfel oder eine Birne beißen zu können. Doch er wird noch weitere vier Wochen im Gefängnis festgehalten. Am 24. November 1937 wird sein Entlassungsschein ausgestellt. Darauf wird folgender Vermerk eingetragen: “Diehl wurde für die Staatspolizeistelle Saarbrücken in Schutzhaft genommen.” Caroline, Heinrichs Mutter, erhält darüber nur eine lapidare Mitteilung: „Gerichtsgefängnis Zweibrücken – Ihr Sohn Heinrich Diehl wurde heute 24. Nov. von hier ab, nach dem Polizeipräsidium Weimar verschubt (Thüringen).“ Das bedeutet: Heinrich wird in das KZ Buchenwald deportiert.

SCHUTZHAFT

Die Schutzhaft war ein entscheidendes, repressives Mittel der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Sie ermöglichte es dem Regime, ihre Gegner ohne richterliche Kontrolle (d.h. ohne Anklage, Beweise oder ein Urteil) in Haft zu nehmen – auch in Konzentrationslagern. Das Vorliegen einer Straftat war nicht mehr nötig für eine Verhaftung, sondern bereits der Verdacht, dass jemand zukünftig eine Straftat begehen könnte, reichte dafür aus.

Die Nationalsozialisten nutzten den Reichstagsbrand in Berlin am 27. Februar 1933 als Vorwand für eine Notverordnung („Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“), die die Grundrechte der Menschen massiv einschränkte. Sie nutzten diese formalrechtliche Grundlage, um Regimekritiker zu verfolgen. Zu Beginn wurden daher besonders viele Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter inhaftiert.

Aber das Regime ging über den eigentlichen Zweck der Notverordnung, nämlich der „Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ weit hinaus. Jeder Mensch im Deutschen Reich war bald dem Terror einer willkürlichen Verfolgung durch das Regime ausgesetzt. Viele hatten daher große Angst vor der Verhaftung durch die Gestapo oder die SS. Ob und wann man aus der Haft wieder entlassen wurde, hing allein von der Willkür des Regimes und seiner Funktionäre ab.

Ausschnitt Reinchstagsbrandverordnung / schutzhaft
Ausschnitt aus der “Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat” (Reichstagsbrandverordnung)

27. November 1937

Der KZ-Häftling Heinrich Diehl wurde vom Dienst in der Wehrmacht “im Frieden und im Kriege” ausgeschlossen. Das Foto entstand während seiner Inhaftierung im KZ Buchenwald im Jahr 1940.

Einen Tag vor dem Ersten Advent 1937 kommt Heinrich im KZ Buchenwald an. Er wird mit dem Roten Winkel der politischen Häftlinge zwangsgekennzeichnet und erhält die Gefangenennummer 2265. Im folgenden Jahr wird er Listenführer des Kommandos Straßenbau, eines berüchtigten Kommandos mit einer immens hohen Sterblichkeitsrate. Zweimal wird Heinrich in Außenlager verlegt, die an die Leichtmetallgießerei der Rautalwerke GmbH angegliedert sind. Die Häftlinge stellen dort unter übelsten Arbeitsbedingungen Motorenteile für die Wehrmacht her. Heinrich schreibt seiner Mutter auch aus dem KZ so oft wie möglich, und das bedeutet: zweimal im Monat. Seine Briefe enthalten nur wenige Informationen über den Alltag in Buchenwald – das durften sie auch nicht, denn es war den Häftlingen streng untersagt, irgendeine Information über das Lager oder die persönliche Situation zu schreiben. Er freut sich am meisten, wenn seine Mutter ihm Neuigkeiten aus seinem geliebten Heimatdorf berichtet.

11. April 1945

Der provisorische Ausweis vom Mai 1945 weist Heinrich als einen Befreiten des KZ Buchenwald aus.

7 Jahre, 4 Monate und 16 Tage sind vergangen, bis Heinrich gemeinsam mit rund 21.000 weiteren lebenden Häftlingen von US-amerikanischen Truppen aus der Gefangenschaft im KZ Buchenwald befreit wird. Wenige Tage zuvor waren es noch über 47.000 – die Übrigen sind von der SS ermordet oder auf „Todesmärsche“ in andere Lager geschickt worden. Heinrich hat überlebt. Er erhält am 7. Mai 1945 einen so genannten „Verfügungsbefehl“ der Amerikaner und provisorische Ausweispapiere, und wird in die Heimat entlassen.

1945 - 1947

Wohnhaus der Familie Diehl in Sprendlingen, 2009

Als Heinrich im Mai 1945, nach mehr als neun Jahren KZ- und Gefängnishaft, in sein „geliebtes Dörfchen“ Sprendlingen zurückkehrt, ist er wie die weitaus meisten Überlebenden der Konzentrationslager abgemagert und krank, durch die harte Arbeit und die furchtbaren Erlebnisse im Lager früh gealtert und stark traumatisiert. Seine Kinder berichten später, er habe nie wieder in einem Bett schlafen können, immer nur auf dem Fußboden und oft geweint. Einsam sei er gewesen, meistens betrunken und irgendwie „verloren“.
Heinrich versucht im Berufsleben wieder Fuß zu fassen. Am 1. August 1945 tritt er seinen Dienst bei der Nachfolgebehörde des Feldbereinigungsamtes, der Umlegungs- und Siedlungsbehörde des Kulturamts Bingen an. An Pfingsten 1947 heiratet Heinrich die vierzehn Jahre jüngere Irmgard Augustine Heesen, die eine Tochter mit in die Ehe bringt. Die kleine Familie wohnt im Haus von Heinrichs Mutter Caroline in der Schulstraße in Sprendlingen.

1950 - 1952

Portrait Heinrich Diehl, 1950

Sein gesundheitlicher Allgemeinzustand und vor allem seine immer deutlicher zutage tretende Tuberkulose-Erkrankung machen Heinrich seine Arbeit zunehmend unmöglich. Im April 1950 wird er mit 48 Jahren frühverrentet und bezieht eine sehr schmale Invalidenrente. Es geht Heinrich immer schlechter. Im November 1951 begeht er einen Selbstmordversuch. Man findet ihn noch rechtzeitig und bringt ihn in die Heil- und Pflegeanstalten nach Alzey, wo auch schon seine Mutter nach einem Zusammenbruch, den sie nach Heinrichs erster Verhaftung erlitten hatte, untergebracht worden war. Zu dieser Zeit ist seine Frau Irmgard schwanger. Sie bringt nur wenige Monate später, am 11. März 1952, die Zwillinge Wilhelm und Margarete zur Welt.

29. Juli 1952

Todesanzeige für Heinrich Diehl, August 1952

Heinrich stirbt, nachts um halb zwei, an den Folgen der Tuberkulose, die er sich in Buchenwald zugezogen hatte. Er war gerade fünfzig Jahre alt geworden und hinterließ neben seiner Frau und deren Tochter Bärbel seine zwei kleinen Zwillingskinder, Margarete und Wilhelm, beide noch kein halbes Jahr alt.

Wiedergutmachung für Heinrich Diehl

Porträt Heinrich Diehl 1951
Portrait Heinrich Diehl, 1951

Heinrich sah sich nach seiner Befreiung, der neun Jahre Gefängnis- und KZ-Haft vorausgegangen waren, zurecht als ein Verfolgter des Nationalsozialismus und daher berechtigt, in der neuen Bundesrepublik Entschädigungsleistungen zu erhalten. Dass seine wiederholten Inhaftierungen und das Einsperren in Buchenwald objektives Unrecht waren – daran kann niemand ernsthaft zweifeln. Doch Heinrichs Familie ist mit ihrem Kampf für ein gerechtes Entschädigungsverfahren, den Heinrichs Witwe Irmgard im Grunde bis zu ihrem Tod im Jahr 2006 führte, und der bis zur höchsten Instanz, dem Bundesgerichtshof ging, gescheitert.

Die Entschädigungsbehörden griffen gerne und ganz selbstverständlich auf Gerichtsurteile aus der Nazizeit zurück, um Antragsteller zu diskreditieren und ihnen ihren Status als Verfolgte des Naziregimes, als Opfer und Überlebende, abzusprechen. Mehrere Gerichte unterstellten Heinrich, nicht etwa aus seiner politischen Überzeugung heraus, sondern aufgrund von Enttäuschung, Verbitterung und Trunkenheit die Äußerungen getan zu haben, die ihn ins Gefängnis und Konzentrationslager brachten. Nicht nur, dass man ihm unterstellte, er sei selber Schuld an seinem Unglück – man benutzte auch dieselbe Diktion, wie sie die Nazis in den Jahren zuvor benutzt hatten.


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Autorin: Lena Knops

SEKUNDÄRLITERATUR

Benz, Wolfgang, Verweigerung im Alltag und Widerstand im Krieg (2005), Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 243) – Verweigerung im Alltag und Widerstand im Krieg, online verfügbar: bpb.de.

Büttner, Ursula, Weimar. Die überforderte Republik 1918-1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008.

Falter, Jürgen W., Hitlers Wähler, überarbeitete Auflage München 2020.

Peukert, Detlev J. K., Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt/M. 2016.

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Wagner, Walter, Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat: Mit einem Forschungsbericht für die Jahre 1974 bis 2010 von Jürgen Zarusky, erweiterte Neuausgabe München 2011.

Wirsching, Andreas, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München 2008.

BILDQUELLEN

Albert Einstein Immigration

Scherl, Albert Einstein on the bord of ocean liner emigrates to America, 18.03.1933, Süddeutsche Zeitung Photo, online verfügbar: wikimedia.org. Lizenz: Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE.

Ausflug Sommer

Ausflug Heinrich Diehl mit Freunden im Sommer, 1930er Jahre,
Privateigentum Wilhelm Diehl.

Ausflug Winter

Ausflug Heinrich Diehl mit Freunden im Winter, 1933, Privateigentum Wilhelm Diehl.

Ausschließungsschein

Ausschließungsschein aus der Wehrmacht, Weimar 19.09.1940, Privateigentum Wilhelm Diehl.

Feldbereinigungsamt

Feldbereinigungsamt Bingen, Heinrich Diehl sitzend, 1933-1935, Privateigentum Wilhelm Diehl.

Gastwirtschaft „Bauernschänke“, vormals „Rosskopf“ in Sprendlingen

Gastwirtschaft „Bauernschänke“, vormals „Rosskopf“, in Sprendlingen, 2009, Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V.

Gesichtsmaske für Strafgefangene, Berlin Moabit

Autor:in unbekannt, Gesichtsmaske für Strafgefangene, Berlin Moabit, 1931, Bundesarchiv, Bild 102-12560, wikimedia.org. Lizenz: Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE.

Heimtückegesetz

Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen (Heimtückegesetz) vom 20. Dezember 1934, RGBl. I S. 1269.

Lagertor mit Schriftzug “Jedem das Seine”

Martin Kraft, Das Lagertor des KZ Buchenwald mit dem vom Bauhauskünstler Franz Ehrlich gestalteten Schriftzug „Jedem das Seine“, Juli 2015, online verfügbar unter: commons.wikimedia.org, Lizenz: CC BY-SA 3.0.

Passbild Heinrich Diehl um 1930

Passbild Heinrich Diehl um 1930, Privateigentum Wilhelm Diehl.

Pfaffen-Schwabenheim und Sprendlingen

Giggel, Pfaffen-Schwabenheim und Sprendlingen, 2010, unverändert, online verfügbar: wikimedia.org. Lizenz: Lizenz: CC BY 3.0 Unported..

Portrait Heinrich Diehl 1950

Portrait Heinrich Diehl 1950, Privateigentum Wilhelm Diehl.

Portrait Heinrich Diehl 1951

Portrait Heinrich Diehl 1951, Privateigentum Wilhelm Diehl.

Provisorischer Ausweis

Provisorischer Ausweis für Befreite des KZ Buchenwald, Weimar-Buchenwald 14.05.1945, Privateigentum Wilhelm Diehl.

Reichstagsbrandverordnung

Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat (Reichstagsbrandverordnung) vom 28. Februar 1933, RGBl. I 1933, Nr. 17, Seite 83.

Sammlung für Arme und Arbeitslose, 1931

Autor:in unbekannt, Sammlung für Arme und Arbeitslose, Berlin 1931, Bundesarchiv, Bild 102-12444, online verfügbar: wikimedia.org. Lizenz: Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE.

Schulstraße 13 in Sprendlingen

Schulstraße 13 in Sprendlingen, Wohnhaus der Familie Diehl, 2009, Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V.

Schwimmausflug

Schwimmausflug, Anfang 1930er Jahre, Privateigentum Wilhelm Diehl.

Stimmzettel zur Reichstagswahl 1936

Stimmzettel zur Reichstagswahl 1936, gemeinfrei, online verfügbar:wikimedia.org.

Todesanzeige

Todesanzeige Heinrich Diehl, August 1952, Privateigentum Wilhelm Diehl.

Zwangsarbeit Buchenwald

Prisoners from Buchenwald mix concrete for construction work in the quarry near the camp. United States Holocaust Memorial Museum Photo Archives #19215. Courtesy of National Archives and Records Administration, College Park. Copyright of United States Holocaust Memorial Museum.

ZUSÄTZLICH VERWENDETES QUELLENMATERIAL AUF UNSEREN SOCIAL MEDIA KANÄLEN

Arbeitsloser auf Arbeitssuche, 1928

Autor:in unbekannt, Arbeitsloser auf Arbeitssuche, 1932, Bundesarchiv, Bild 183-R79053, online verfügbar: wikimedia.org. Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE.

Ausweis OdF

Ausweis Betreuungsstelle Opfer des Faschismus (OdF) für Heinrich Diehl, Landesregierung Rheinland-Pfalz, Koblenz 10.05.1950, Privateigentum Wilhelm Diehl.

Befreiung KZ Buchenwald, Amerikanische Soldaten sammeln deutsche Waffen

American soldiers with a stockpile of German arms and ammunition at the gate to Buchenwald. United States Holocaust Memorial Museum Photo Archives #62133. Courtesy of National Archives and Records Administration, College Park. Copyright of United States Holocaust Memorial Museum.

Berliner jubeln Hitler zu

Cheering Berliners greet Adolf Hitler in front of the chancellery as he travels to the Kroll Opera House for the opening of the first working session of the Reichstag two days after the ceremonial opening in Potsdam. United States Holocaust Memorial Museum Photo Archives #78604. Courtesy of National Archives and Records Administration, College Park. Copyright of United States Holocaust Memorial Museum.

Friseur-Salon, Angebot für Arbeitslose, Berlin 1927

Röhnert, Berlin, Friseur-Salon, Angebot für Arbeitslose, 1927, Bundesarchiv, Bild 183-B0527-0001-772, online verfügbar: wikimedia.org. Lizenz: Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE.

Geheimes Staatspolizeiamt, Berlin

Autor:in unbekannt, Berlin, Geheimes Staatspolizeihauptamt, 1933, Bundesarchiv, Bild 183-R97512, online verfügbar: wikimedia.org, Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE.

Geheimes Staatspolizeiamt, Berlin, Innenansicht

Autor:in unbekannt, Berlin, Geheimes Staatspolizeiamt, 1934, Bundesarchiv, Bild 102-03796A, online verfügbar: wikimedia.org, Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE.

Häftlingspersonalbogen Heinrich Diehl

Häftlingspersonalbogen Heinrich Diehl, Buchenwald, 1.1.5.3./5755925/ITS Digital Archive, Arolsen Archives.

Passbild Heinrich Diehl 1940

Passbild Heinrich Diehl 1940, Privateigentum Wilhelm Diehl.

Polizist bei Kälte, Berlin

Autor:in unbekannt, Berlin, Polizist bei Kälte, Januar 1937, Bundesarchiv, Bild 183-C00772, online verfügbar: wikipedia.org, Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE.

Reichstagswahl 1930, Propagandawagen des Zentrums

Autor:in unbekannt, Reichstagswahl, Propagandawagen des Zentrums, Berlin August 1930, Bundesarchiv, Bild 102-10313, online verfügbar: wikimedia.org. Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE.

Schutzpolizei Kattowitz

Autor:in unbekannt, Polen, Schutzpolizei Kattowitz, 23. September 1939, Bundesarchiv, Bild 121-0288, online verfügbar: wikipedia.org, Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE.

Symboldbild Gestapo Köln

The interior of the Gestapo prison in Koeln. United States Holocaust Memorial Museum Photo Archives #77086. Courtesy of National Archives and Records Administration, College Park. Copyright of United States Holocaust Memorial Museum.

Symbolbild Polizeiliche Kontrolle in Straßburg

Autor:in unbekannt, Straßburg, Kontrolle, 1940, Bundesarchiv, Bild 121-0472, online verfügbar: wikimedia.org, Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE.

Symbolbild Volksgerichtshof, Ferdinand Freiherr von Lüninck

Autor:in unbekannt, Volksgerichtshof, Ferdinand Freiherr von Lüninck, Berlin 1944, Bundesarchiv, Bild 151-52-30A, online verfügbar: wikimedia.org. Lizenz: CC BY-SA 3.0.

Video Liberation of Buchenwald

Liberation of Buchenwald, RG Number: RG-60.2393, Accessed at United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of National Archives & Records Administration.

Video Konzentrationslager

concentration Camp oldnew, storyblocks.com.

Volksgerichtshof

Autor:in unbekannt, Volksgerichtshof, Reinecke, Freisler, Lautz, Berlin 1944, Bundesarchiv, Bild 151-39-21, online verfügbar: wikimedia.org, Lizenz: CC BY-SA 3.0.

Volksgerichtshof, Zuschauer

Autor:in unbekannt, Volksgerichtshof, Dr. Ernst Kaltenbrunner, Berlin 1944, Bundesarchiv, Bild 151-15-12, online verfügbar: wikimedia.org. Lizenz: CC BY-SA 3.0.

WEITERE FÄLLE

Karlrobert
Kreiten

Robert
Limpert

Isa
Vermehren

Władek
Zarembowicz

Ilse
Heinrich