1942

ELISE SCHÄFER UND WALTER SAMSTAG

Elise und Walter bei einem Ausflug in den botanischen Garten von Schloss Herrenhaus bei Hannover, 1938.

Elise Schäfer versucht, ihren ärmsten Verhältnissen durch Sexarbeit zu entkommen. Sie verliebt sich in den Zuhälter Walter Samstag, der als “Berufsverbrecher” ins KZ Dachau deportiert wird. Elise wird zur Prostitution in einem Wehrmachtsbordell gezwungen, doch sie passt sich an und verschafft sich Vorteile. Während Elise um wirtschaftliche Unabhängigkeit und Sicherheit kämpft, wird Walter in der NS-Tötungsanstalt Hartheim ermordet. Ihre Geschichte verdeutlicht die Doppelmoral des NS-Regimes, das selbst zum größten Zuhälter wurde.

17. Dezember 1913

Elise Schäfer bei ihrer Firmung in Frankfurt.

Ungefähr ein halbes Jahr vor Beginn des Ersten Weltkrieges wird Elise Schäfer in der Bethmannstraße 34 in Frankfurt am Main als drittes Kind der Familie geboren. 1921 werden noch Zwillingsschwestern dazukommen. Von ihrer Familie wird Elise „Liesel” genannt. Ihr Vater Johann ist ein herrschsüchtiger, gewalttätiger Mann, der der Ehefrau und Mutter Elisabetha oft fremdgeht. Elise ist eine gute Schülerin, sie lernt schnell. In ihrer Freizeit unterstützt sie ihre Mutter und trägt zusammen mit ihren Geschwistern den Frankfurter Generalanzeiger aus. Das macht Elise gerne, um der Gewalt des Vaters zu entkommen. Als Johann im Kriegsdienst ist, ist es Zuhause ruhig und gewaltfrei.

Mai 1932

Flussbadeanlage Mosler’sche Badeanstalt in Frankfurt am Main. Das damals größte Freibad in Deutschland, 1931.

Mitte Mai schließt Elise ihre Lehre bei Friseur Drexel mit guten Noten ab. Einen Monat später lernt sie in der Badeanstalt Mosler ihren zukünftigen Ehemann Willi Reger kennen. Als Metzgergeselle verdient er gut und lässt Elise großzügig ein Kleid für einen anstehenden Sommerball anfertigen. Als Elise nach dem Sommerball mit 18 Jahren das erste Mal bei Willi übernachtet und erst am nächsten Morgen nach Hause kehrt, beleidigt Vater Johann Elise und schmeißt sie raus. Sie solle in die Gosse gehen, wo sie hingehöre. Mutter Elisabetha ist verzweifelt und will noch einmal mit ihrem Mann reden. Aus Angst vor Gewalt entscheidet Elise verängstigt, ihr Elternhaus zu verlassen und alleine zurechtzukommen.

Oktober 1932

Frankfurt Innenstadt, ca. 1930-1935.

Mit 18 Jahren gilt Elise noch als minderjährig. Sie weiß, dass sie ins Kinderheim kommt, wenn sie die städtische Fürsorge beantragt. Doch sie hat Glück. Ihr ehemaliger Lehrmeister Friseur Drexel stellt sie als Krankheitsvertretung ein. Übergangsweise kann Elise bei Willis Eltern unterkommen. Doch dann wird Willi krank. Außerdem sorgen sich seine Eltern vor Gerüchten in der Nachbarschaft. Denn “Kuppelei”, die Förderung von Unzucht zwischen unverheirateten Paaren, ist strafbar. Im Dezember besorgt Willi Elise ein günstiges Dachzimmer zur Untermiete in der Hammelgasse 12, neben dem Frankfurter Untersuchungsgefängnis. Elises erste eigene Bleibe.

1933

Arbeitslose SA-Männer, Berlin 1932.

Die Weltwirtschaftskrise erreicht ihren Höhepunkt. Die Arbeitslosigkeit steigt massiv, Vater Johann gehört zu den 80.000 Arbeitslosen in Frankfurt. Inmitten dieser sozialen und wirtschaftlichen Notlage kommen die Nationalsozialist:innen am 30. Januar an die Macht. Auch Elise verliert im Mai ihre Stelle, trotz guter Leistungen. Es folgen nur befristete Aushilfsjobs. Im Juli arbeitet sie vier Wochen in einem Friseursalon in der Stiftstraße, danach bezieht sie Arbeitslosengeld. Finanzielle Unterstützung erhält sie vor allem von Willi, der ihr immer wieder Geld leiht. Als sich keine Perspektive abzeichnet, hat Willi einen Vorschlag: Elise soll sich prostituieren. Sie ist fassungslos, so etwas könnte sie niemals tun. In dieser Zeit erinnert sich Elise oft an ihren unerfüllten Kindheitstraum, Straßenbahnschaffnerin zu werden.

Herbst 1933

Kundgebung zu Beginn des Autobahnbaus vor der Wertpapierbörse, Frankfurt am Main, 1933.

Trotz ihrer Vorbehalte betritt Elise das Café Windsor in der Kaiserstraße, ein Treffpunkt für junge Frauen und Freier. Willi übernimmt eine besondere Rolle: Er beobachtet Elise aus der Ferne, lässt ihr Kleider anfertigen, gibt finanzielle Ratschläge, vermittelt Absteigen und informiert sie über Geschlechtskrankheiten. Er hat Ahnung. Elise kommt bei den Männern gut an. Ein Freier schenkt ihr auf offener Straße Blumen, „weiße Nelken für Elise”. Ein auffälliges Zeichen, das bei der Konkurrenz Misstrauen weckt. Kurz darauf wird Elise denunziert und an ihrem dritten Arbeitstag von der Sittenpolizei verhaftet. Mit 19 Jahren verbringt sie ihre erste Nacht in einer Gefängniszelle. Danach folgen zwangsangeordnete Untersuchungen im Krankenhaus. Drei Tage bleibt sie zur Beobachtung. Elise hat Glück, sie gilt als gesund. Daraufhin erhält sie einen offiziellen Gewerbeschein und wird verpflichtet, sich wöchentlich beim Gesundheitsamt untersuchen zu lassen. Was Elise nicht weiß: Frauen mit häufig wechselndem Geschlechtsverkehr, sogenannte “HWG-Personen“, sowie mit sexuell übertragbaren Krankheiten infizierte Personen werden von den Gesundheitsämtern namentlich an die Erb- und Rassenkartei gemeldet. Der Staat beginnt, Elise zu registrieren und zu kontrollieren.

Prostitution und Zuhälterei im NS

Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten von 1927.

Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten von 1927.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialist:innen wurde das 1927 eingeführte Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (GeschlKrG) stark eingeschränkt. Zwar wurde Prostitution im Jahr 1933 zunächst weiterhin geduldet, doch richtete sich die staatliche Repression verstärkt gegen die Zuhälterei. Das in der Weimarer Republik verabschiedete Gesetz verfolgte einen liberalen Ansatz: Es zielte auf eine systematische Entkriminalisierung von Prostitution, den gesundheitlichen und polizeilichen Schutz der betroffenen Frauen sowie Maßnahmen zur Unterstützung beim Ausstieg. Im Gegensatz dazu betrachtete das NS-Regime Prostituierte als “gemeinschaftsfremde Subjekte”, die “unbedingt bekämpft” werden müssten. Ihr Lebensentwurf widersprach dem von den Nationalsozialist:innen propagierten Frauenbild. Sie wurden als “asozial” stigmatisiert, polizeilich registriert und strafrechtlich verfolgt, mit dem Ziel der “Reinhaltung des Straßenbilds”.

Die Risiken für Prostituierte waren erheblich: Frauen, die sich auf städtische Kosten wegen Geschlechtskrankheiten behandeln lassen mussten, Geschlechtskrankheiten übertrugen oder gegen sogenannte Strichverbote verstießen, konnten verhaftet und in ein Arbeitshaus eingewiesen werden. Im schlimmsten Fall drohten Entmündigung aufgrund angeblichen “moralischen Schwachsinns”, Zwangssterilisation oder die Deportation in ein KZ. Hinzu kamen finanzielle Notlagen, Angst vor sexuell übertragbaren Krankheiten sowie die ständige Bedrohung durch Gewalt ausgehend von Zuhältern oder gewalttätigen Freiern. Nach 1939 wurde die Reglementierung weiter verschärft: Das Gesetz der Weimarer Republik wurde vollständig aufgehoben. Gleichzeitig wurde die ideologische Doppelmoral des NS-Regimes deutlich erkennbar: Unter dem Vorwand der Krankheitsprävention wurde Prostitution staatlich kontrolliert weitergeführt. Zudem ließ der NS-Staat Wehrmachtsbordelle einrichten, in denen Frauen zur Sexarbeit gezwungen wurden.

8. Juli 1935

Verurteilung von Elise Reger zu fünf Tagen Haft am 8. Mai 1937, Amtsgericht Frankfurt.

Willi bittet Elise, ihn zu heiraten. Sie beziehen ihre erste gemeinsame Wohnung in der Albusgasse. Willi arbeitet weiterhin als Metzgergehilfe und verdient zusätzliches Geld als Zuhälter. Eines Abends kommt Willi nicht nach Hause. Elise erfährt, dass er mit einer Barfrau verreist ist, von ihrem Geld. Daraufhin packt Elise ihre Sachen und zieht vorerst in ihre Absteige in der Kaiserstraße. Liebe war es für Elise nie. Doch sie ist offiziell als Prostituierte registriert und die Nationalsozialist:innen nehmen vermehrt Zuhälter ins Visier. Aus Angst, Elise könne ihn belasten, willigt Willi eingeschüchtert in die Scheidung ein. Nach etwas mehr als zwei Jahren zieht Elise die Konsequenzen. In Frankfurt fühlt sie sich nicht mehr sicher. Am 8. Mai 1937 wird sie erneut verhaftet. Außerdem hat sie Wanzen in ihrer Absteige und erkrankt an einer Nierenbeckenentzündung, weswegen sie vorerst bei ihren Eltern unterkommt. Dort trifft die Scheidungsurkunde ein: Elise ist frei. Sie verlässt Frankfurt und beginnt in Kassel ein neues Kapitel. Später verschlägt es sie nach Mannheim.

25. September 1937

Schwarz-weiß Foto von Elise Reger um 1937.

Frisch geschieden meldet sich Elise am 25. September in Mannheim an. Auf dem Meldebogen trägt sie als Berufsbezeichnung selbstbewusst „Dirne” ein. Aus ihrer Profession macht Elise nie ein Geheimnis. Mannheim verschafft Elise Sicherheit und einen festen Arbeitsplatz in einem streng reglementierten Bordellbezirk. In ihrer neuen Unterkunft bei der Bordellwirtin Frau Schanker in der Gutemannstraße 9 begegnet sie am nächsten Tag erstmals Walter Samstag. Die letzten Jahre hat er im Gefängnis und im Arbeitshaus verbracht. Seine Entlassung feiert Walter einen Tag später mit dem Geld seiner Mutter im Bordell, ein Moment der Freiheit. Elise verliebt sich in Walter und unterstützt ihn finanziell. Sie kleidet sich und Walter gerne schick ein. Von ihrem Einkommen als Prostituierte kauft sie ihm sogar ein Auto. Trotz der ständigen Angst vor Verhaftung genießen sie ihr Leben und die gemeinsame Freizeit. Am 3. Oktober wird Elise erneut für drei Tage verhaftet und medizinisch untersucht.

Wer ist Walter Theodor Samstag?

Porträtfoto von Walter Samstag um 1928 mit 15 Jahren.
Porträtfoto von Walter Samstag um 1928 mit 15 Jahren.

Walter Theodor Samstag wird am 6. September 1913 in Mannheim-Sandhofen geboren, als einziges Kind von Georg Samstag und Marie Bohrmann. Die Familie betreibt ein Kolonialwarengeschäft, in dem Walter seine kaufmännische Lehre abschließt. Schon früh zeigt sich sein schwieriger Charakter: Er gilt als jähzornig, trinkt viel Alkohol, lebt über seine Verhältnisse und bekommt Geld von verschiedenen Frauen. Bereits mit 17 Jahren erhält Walter vom Jugendamt Mannheim die Anordnung zur „Fürsorgeerziehung”, um ihn aus der Großstadt fernzuhalten. Am 23. Februar 1931 wird er im Erziehungsheim Schwarzacher Hof aufgenommen. Heimlich versucht Walter, Besuch von „Frau Kayser” anzumelden, die er als seine Cousine angibt. Eine gerichtliche Untersuchung ergibt jedoch, dass Walter Geld von ihr erhalten haben soll, was an „Zuhälterei grenze”. Als weitere Erziehungsmaßnahme wird er in die Jugendeinrichtung Stift Sunnisheim versetzt. Am 15. Juni 1933 wird Walter mit 19 Jahren wegen Zuhälterei angezeigt. Das Schöffengericht Mannheim verurteilt ihn zu 15 Monaten Gefängnis. Walters Vater engagiert aus Scham keinen Anwalt für seinen Sohn. Während seiner Haft versucht Walter zu fliehen. Der gescheiterte Ausbruch führt zu einer weiteren Verurteilung: zwei Jahre Freiheitsstrafe wegen „Anstiftung zur Gefangenenbefreiung”. Nach einem Aufenthalt im Zuchthaus Marienschloß wird er in die Strafanstalt Preungesheim verlegt. Am 31. März 1937 erklärt ihn der Anstaltsarzt dort für arbeits- und transportfähig. Daraufhin wird Walter am 1. April 1937 für sechs Monate ins Arbeitshaus Kislau überstellt. Immer wieder widersetzt Walter sich den Gefängniswärtern, was mit Einzelhaft und Essensentzug bestraft wird. Am 25. September 1937, nach über vier Jahren in Haft und Verwahrung, wird Walter Samstag entlassen.

1938

Walter und Elise bei einem Ausflug ins Umland von Hannover mit Elises Kollegin Erna, 1938.

Walter stellt Elise, die er wie ihre Familie „Liesel“ nennt, seinen Eltern vor. Diese reagieren ablehnend, eine Dirne als Schwiegertochter kommt für sie nicht infrage. Doch Walter macht ihnen schnell klar, dass sie das Verhältnis zu akzeptieren haben. Mit 25 Jahren wird Elise erstmals schwanger. Sie erfährt zufällig bei einer Routineuntersuchung davon. Walter reagiert jähzornig und fordert einen Schwangerschaftsabbruch. Dazu kommt es nicht. Walter bleibt bei ihr, doch seine Wutausbrüche nehmen zu: Er wird gewalttätig und fordert ihr gesamtes Einkommen. Im Juni reist Elise mit ihrer Kollegin Erna nach Hannover, um auf einer Kirmes Geld zu verdienen und Abstand von Walter zu gewinnen. Am 1. Juli meldet sie sich offiziell aus Mannheim ab. Wenig später folgen Walter und Ernas Zuhälter den Frauen nach Hannover. Wenn die Frauen nicht anschaffen gehen, unternehmen sie gemeinsame Ausflüge mit dem Cabrio. In Hannover ist die Lage gefährlich, die Geheimpolizei überwacht die Straßen. Walter wird immer häufiger gewalttätig, er scheint eifersüchtig auf das ungeborene Kind zu sein. Elise droht Walter, ihn „reinzubringen”. Daraufhin kehrt er nach Mannheim zurück. Sie selbst geht zurück nach Frankfurt zu ihren Eltern. Dort bringt sie am 26. November ihren Sohn Dieter zur Welt.

Januar 1939

Mitgliedsbuch der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), München, 1923.

Plötzlich steht Walter unangekündigt vor der Tür der Familie Schäfer. Elise, unsicher, wie sie nach der Geburt ihres Sohnes ihren Lebensunterhalt bestreiten soll, kehrt am 27. Januar mit ihm nach Mannheim zurück. Der kleine Dieter bleibt in Frankfurt und wächst unter der Vormundschaft seines Großvaters Johann Schäfer auf. Mehrfach erscheint das Jugendamt bei Elise, doch sie verweigert konsequent Auskünfte über den Kindsvater. Aus Angst, ihr Sohn könne wegen der Lebensumstände seiner Eltern als “asozial“ eingestuft und in ein Heim eingewiesen werden, überträgt Elise das Sorgerecht offiziell ihren Eltern. Ihr Vater, NSDAP-Mitglied, gilt in den Augen der Behörden als unauffällig. Sein Name taucht nicht in der “Asozialenkartei“ auf.

Mai 1939

Schutzpolizist und Hilfspolizist patrouillieren in Berlin,
5. März 1933.

Walters Vorstrafen sind den Behörden bekannt, ebenso seine Beziehung zu Elise, die offiziell als Prostituierte registriert ist. Um ihn wegen Zuhälterei zu überführen, braucht die Polizei einen Nachweis: Er muss Geld von Elise erhalten haben, das sie mit Prostitution verdient hat. Ende Mai verhaften vier Beamte Elise und Walter in der Gutemannstraße 9. Elise bestreitet konsequent, Walter “Hurengeld” gegeben zu haben. Am 7. Juni wird sie entlassen. Dieses Mal beauftragt Walters Vater einen Anwalt, auch Walter kommt frei. Seitdem stehen beide unter ständiger polizeilicher Beobachtung.

19. Mai 1940

Schreibstubenkarte von Walter Samstag aus dem KZ Dachau. Die Abkürzung “PSV” steht für “Polizeilich Sicherungsverwahrte”.

Elise und Walter werden unvorsichtig. Kriminalinspektor Brunnet verhaftet sie erneut. Dieses Mal liegen Walters umfangreiche Strafakten vor, belastende Beweise für die Ermittlungen. Um ihn auch wegen Zuhälterei anzuklagen, soll Elise während ihrer dreimonatigen Untersuchungshaft zu einem Geständnis gezwungen werden. Doch sie schweigt. Ein Nachweis, dass Walter von ihrem Einkommen profitiert, bleibt aus. Genauso wie die Verurteilung wegen Zuhälterei. Trotzdem entlässt ihn die Polizei nicht. Kriminalkommissar Georg Blank ordnet “polizeiliche Sicherungsverwahrung“ an, mit Verweis auf Walters Vorstrafenregister. Walters Vater Georg wird vom Amtsrichter darüber informiert, dass sein Sohn freigesprochen werde. Doch Walter kommt nicht frei und sein Vater sieht ihn nie wieder. Walter Samstag wird zunächst nach Nürnberg überstellt und am 7. September ins KZ Dachau deportiert. Dort erhält er die Häftlingsnummer 18871.

4. September 1940

Straßenschild, Metzgergiessen, Straßburg, 2009.

Nach ihrer Freilassung wird Elise dazu verpflichtet, sich beim Polizeipräsidium zu melden. Man weist ihr eine neue Arbeitsadresse zu: die Entengasse in Karlsruhe, im städtischen Rotlichtviertel, im Volksmund auch „Rue de la quack-quack“ genannt. Sechs Wochen lang lebt und arbeitet sie dort, in Hausnummer 16. Am 4. September, frühmorgens um fünf Uhr, muss sich Elise auf Anweisung mit gepackten Koffern am Straßenrand vorfinden. Ohne Erklärung hält wenig später ein Lastwagen. SS-Männer fordern sie und die anderen Frauen zum Einsteigen auf. Wohin die Fahrt geht, erfahren sie nicht. Erst am Nachmittag erreichen sie ihr Ziel: Straßburg. Die Straße heißt Metzgergiessen und liegt am Rand der Stadt. Als Elise erkennt, dass es sich nicht um ein KZ handelt, ist sie erleichtert. Stattdessen findet sich Elise in einem Wehrmachtsbordell wieder. Ein SS-Mann übergibt die Gruppe an die Bordellwirtin Frau Gerhardt. Elise erhält eine Karteikarte, ein Zimmer wird ihr fest zugewiesen – ein Tausch ist nicht erlaubt. Ihren vollen Namen muss sie jederzeit angeben, um bei möglichen Krankheitsfällen zurückverfolgt werden zu können. Der Alltag ist streng reglementiert: Die Fensterläden müssen geschlossen bleiben, das Haus darf nur mit ausdrücklicher Erlaubnis verlassen werden. Elise arbeitet täglich von 12 Uhr mittags bis 22 Uhr, oft auch länger. Nur die Hälfte ihres Lohns wird wöchentlich ausgezahlt, der Rest geht an die Bordellwirtin.

Wehrmachtsbordelle im besetzten
Frankreich

Deutsche Soldaten verlassen Wehrmachtsbordell in Brest, Frankreich, Sommer 1940.
Deutsche Soldaten verlassen Wehrmachtsbordell in Brest, Frankreich, Sommer 1940.

Wehrmachtsbordelle waren im besetzten Frankreich ein fester Bestandteil des Besatzungsalltags und fungierten als Instrument der sozialen und rassenpolitischen Kontrolle. Ihr offizieller Zweck ging über die bloße Unterhaltung der Truppe hinaus: Sie sollten den sexuellen Kontakt zwischen deutschen Soldaten und französischen Zivilistinnen unterbinden, um sowohl die militärische Disziplin als auch die nationalsozialistische Ordnungspolitik aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig wurden die Einrichtungen gezielt genutzt, um sexuelle Kontakte mit “nicht-arischen“ Frauen zu kanalisieren und zu kontrollieren. Die Sorge vor politischem Einfluss durch die Zivilbevölkerung sowie vor einem möglichen Verrat militärischer Informationen war ein weiteres Argument für die Etablierung abgeschotteter Bordellbetriebe.

Die Einrichtung der Bordelle folgte detaillierten Reglementierungen, die vom Oberkommando des Heeres (OKH) und dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW) erlassen wurden. Zentral war dabei die gesundheitspolitische Komponente: Die Bordelle dienten der Prävention von Geschlechtskrankheiten, um kampfunfähige Soldaten und damit verbundene Kosten zu vermeiden. Der Zugang zu diesen Einrichtungen war ausschließlich Wehrmachtsangehörigen vorbehalten. Die Kontrolle und Überwachung der Bordelle unterlag den Sanitätseinheiten der Wehrmacht, in denen Kommandanturärzte und leitende Offiziere zentrale Funktionen übernahmen. Diese waren für die Eröffnung und Schließung von Einrichtungen, je nach Truppenstärke und Nachfrage, sowie für die Auswahl der Prostituierten und die Arbeitsverträge zuständig. Der Bordellbetrieb unterstand strikten medizinischen und organisatorischen Vorgaben. Der Gebrauch von Kondomen war verpflichtend. Frauen, bei denen ein Infektionsverdacht bestand oder denen die Übertragung einer Geschlechtskrankheit nachgewiesen wurde, konnten vor ein deutsches Kriegsgericht gestellt werden. Ein Großteil der französischen Zwangsprostituierten wurde aus Internierungslagern überstellt.

5. September 1940

Elise mit ihrem Sohn Dieter beim Heimatbesuch aus dem Wehrmachtsbordell Straßburg, um 1941.

Elises erster Arbeitstag als Zwangsprostituierte im Wehrmachtsbordell in Straßburg beginnt ruhig, denn der Dienst fängt erst um 12 Uhr an. Zuvor müssen die Frauen pünktlich beim gemeinsamen Frühstück erscheinen, um sich zu stärken. Die Anspannung der letzten Nacht in Ungewissheit löst sich allmählich. Die Abläufe sind streng geregelt: Jeder Soldat zahlt 2,50 Reichsmark, erhält ein Kondom und wählt im Salon eine Frau aus. Nach dem Besuch müssen sich die Männer in der Sanierstube medizinisch untersuchen lassen, inklusive Harnröhrenabstrich und amtlichem Stempel in der Besucherkarte. Elise ist erleichtert über die konsequenten Hygienemaßnahmen und darüber, dass sie mit dem Verdienst auskommt. Sie passt sich den Vorgaben des Systems an, um sich erleichternde Umstände zu verschaffen. Elise wird von Frau Gerhardt und dem Kommandanturarzt sowie dem Sanitätsdienst der Wehrmacht geschätzt. Das verschafft ihr Vorteile, die anderen Frauen verwehrt bleiben. Frau Gerhardt erlaubt Elise, Briefe an ihre Familie in Frankfurt und an Walters Eltern in Mannheim zu schreiben.

1941

Deutsche Soldaten beim Umtrunk im „Freudenhaus” in Brest, Frankreich, Sommer 1940.

Nach einem Jahr im Wehrmachtsbordell verfügt Elise über genügend Kapital und Kontakte, um eine eigene Bordelletage in der Fischergasse 16 zu eröffnen. Die Lizenz erhält sie über den Kommandanturarzt, der auch die Prostituierten auswählt. Elise gelingt es, ihrer kleinen Schwester Eva, eine der Zwillingsschwestern, Arbeit bei ihr zu verschaffen. Den Salon richtet sie mit elegantem Mobiliar im Stil von Louis XV ein. Von den Einnahmen ihrer Prostituierten behält sie die Hälfte, zusätzlich erzielt sie Gewinne durch Alkoholausschank und den Verkauf von Hygieneartikeln. Bei Bedarf sichert sie sich einen Zusatzverdienst durch eigene „Liebesdienste“. Monatlich bringt Elise ihrer Familie in Frankfurt Geld, um für ihren Sohn zu sorgen. Sie führt ein strenges Register über ihre „filles soumises“: Die Frauen müssen ihre Ausweise abgeben und dürfen das Haus nur in Begleitung von Elise oder Eva verlassen, um Prostitution unsichtbar zu halten und Kontrolle zu gewährleisten. Jede Entlassung muss Elise der französischen Verwaltung melden. Ein Ausstieg ist für die Frauen kaum möglich, da sie verpflichtet sind, ihren Aufenthaltsort anzugeben und dort erneut zur Sexarbeit gezwungen werden.

Walters Ermordung

Telegramm des Lagerkommandanten Piorkowski an Georg Samstag über Walters Tod aufgrund von „eitriger Angina mit Sepsis” vom 28. Mai 1942.
Telegramm des Lagerkommandanten Piorkowski an Georg Samstag über Walters Tod aufgrund von „eitriger Angina mit Sepsis” vom 28. Mai 1942.

Schloss Hartheim, Oberösterreich, nahe Linz – ein Renaissanceschloss mit tödlicher Geschichte. Zwischen Mai 1940 und Dezember 1944 werden hier über 30.000 Menschen ermordet, vor allem Menschen mit Behinderung sowie Häftlinge aus Konzentrationslagern wie Dachau und Mauthausen, die als „arbeitsunfähig“ gelten. Walter Samstags Briefe aus dem KZ Dachau werden im Laufe der Zeit zunehmend düster, von Hoffnungslosigkeit und Resignation geprägt. Der letzte Brief an seine Eltern datiert vom 22. Februar 1942. Darin schreibt er ein letztes Mal von der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen.

Bei einem Lagerappell kann Walter sein hinkendes Bein nicht mehr verbergen, seine Häftlingsnummer wird notiert. Für einige Monate bleibt er in seiner Baracke. Die Transporte nach Hartheim beginnen erst im Januar 1942. Unter den Häftlingen ist längst bekannt, was die Verlegung bedeutet: Es ist ein Todesurteil.

Zwischen 1942 und 1944 werden über 3.000 Häftlinge aus Dachau, die als „nicht mehr arbeitsfähig” gelten, in sogenannten Invaliden-Transporten nach Schloss Hartheim überstellt und dort systematisch ermordet. Unter ihnen auch Walter Samstag. Der 2. März 1942 wird zu Walters Schicksalstag. Er muss seine Häftlingskleidung abgeben. Die Nacht verbringt er zusammen mit anderen Verletzten und Kranken im Hauptgebäude, schutzlos, auf dem kalten Boden. Es ist sein letzter Tag in Dachau. Am 3. März 1942 wird Walter Samstag nach Hartheim überstellt und dort mit Kohlenstoffmonoxid ermordet.

Walters Vater erhält erst am 28. Mai 1942 die Nachricht vom Tod seines Sohnes. Das handschriftliche Telegramm von Lagerkommandant, SS-Obersturmbannführer Piorkowski, bestätigt, dass Walter Samstag am 27. Mai 1942 an einer eitrigen Angina mit Sepsis verstorben sei und er feuerbestattet wurde. Eine Urnenüberführung könne angefordert werden. Die offizielle Todesursache ist eine Lüge, wie bei tausenden anderen Häftlingen auch. Georg Samstag weiß das zunächst nicht und reagiert mit einem erschütternden Brief an Piorkowski. Darin schreibt er: „Es ist uns unfassbar, wie man einen Tage nach dem Tode schon eine Verbrennung vornehmen kann, und man hätte uns doch nicht verwehren können, wenigstens noch ein letztes Mal unseren toten Sohn zu sehen. Unser Sohn war kein Verbrecher – aber man muss annehmen, jedes menschliche Gefühl wäre Euch fremd, dass Ihr so an ihm und an uns handelt.

4. Oktober 1943

Zusammenkunft von deutschen Wehrmachtssoldaten und Prostituierten in Brest, Sommer 1940.

Elises Bordell wird auf Anordnung des Kommandanturarztes geschlossen, vermutlich aufgrund von Truppenverlagerungen oder rückläufiger Frequentierung. Ungeachtet dessen eröffnet Elise ein neues „maison“ in der Fischergasse 5a. Um die Kundschaft zu sichern, öffnet sie das Bordell nicht nur für Wehrmachtssoldaten, sondern auch für Truppenangehörige anderer Länder sowie für Zivilisten. Häufig suchen Soldaten von der Ostfront Erholung in Frankreich. Elises Aufstieg von einer Zwangsprostituierten zur Bordellwirtin sowie ihre regelmäßigen Heimatbesuche wären ohne enge Verbindungen zu ranghohen Sanitätsoffizieren oder dem Kommandanturarzt nicht möglich gewesen.

1. März 1944

Ehemaliges Zollhaus nach der Bombardierung am 11. August 1944.

Elises Geschäft scheitert und sie kehrt als Prostituierte zurück, diesmal in die Metzgergießen 39 bei der Wirtin Frau Klein. Trotz der Umstände kann sie Ersparnisse auf ihrem Konto ansammeln. Mit dem Krieg ändern sich auch die Verhältnisse: In Straßburg finden seit September 1943 mehrere alliierte Bombenangriffe statt. Als Elise ihre Familie in Frankfurt besucht, wird sie auch Zeugin der tiefgreifenden Veränderungen in Deutschland: zerstörte Städte, verängstigte Menschen und die allgegenwärtige Präsenz der Gestapo.

23. November 1944

Alliierte Streitkräfte einen Tag nach der Befreiung in Straßburg, 24. November 1944.

Für Elise endet die Zeit als Teil der Besatzungsarmee mit der Befreiung Straßburgs am 23. November 1944. Das Bordell wird gestürmt und Elise, ihre Schwester Eva sowie die Bordellwirtin werden festgenommen. Elise wird in das Lager Vorbruck-Schirmeck „Camp de Schirmeck an der Mosel” gebracht, das von den Nazis bis dahin als “Erziehungslager“ für “Vorbeuge- und Schutzhäftlinge” sowie Elsässer:innen betrieben wird, die sich der “Germanisierung” widersetzen. Am 24. November 1944 befreit die US-Armee das ehemalige NS-Zwangslager und funktioniert es bis 1949 als Kriegsgefangenenlager der Alliierten, insbesondere für französische Kollaborateur:innen, um. Elise verbleibt bis 1946 in Kriegsgefangenschaft. Ihre privilegierte Stellung aufgrund von Beziehungen zu ranghohen Offizieren sind Umstände, die ihr nach Kriegsende vermutlich besonders negativ angelastet werden.

Mai 1946

Gesprengte Rheinbrücke in Mannheim mit Blick auf Ludwigshafen. Rechts: Notbrücke der US-Armee,
16. Juni 1945.

Nach fast eineinhalb Jahren Kriegsgefangenschaft wird Elise aus dem Lager Schirmeck entlassen. Die Welt um sie herum hat sich grundlegend verändert: Deutschland ist vom nationalsozialistischen Terror befreit und hat kapituliert. Ihr Sohn Dieter ist zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt und hat während der schweren Bombardierungen Frankfurts mit seinen Großeltern in Luftschutzbunkern ums Überleben gekämpft. Das Land liegt in Trümmern. Elise kehrt zunächst nach Mannheim zurück, wo sie ein leeres Konto vorfindet. Danach wagt sie sich in den Kolonialwarenladen von Walters Eltern und erfährt dort von seinem Tod. Vater Georg macht Elise für Walters Schicksal verantwortlich, überzeugt davon, dass sie einst wegen Zuhälterei gegen ihn ausgesagt habe. In ihrer Heimatstadt Frankfurt trifft sie die Zerstörung besonders. Bei ihrer Familie in Steinau findet sie Unterkunft, lebt erstmals mit Dieter zusammen, erhält einen Vertriebenenausweis und nimmt eine Arbeit in der Steinauer Keramikfabrik auf. Die Tatsache, dass Dieter ohne Vater aufwächst, verbreitet sich in der Grundschule schnell und führt zu spürbaren Konsequenzen für ihn.

Später

Logo des Ulrich-von-Hutten-Gymnasiums in Schlüchtern.

Am Arbeitsplatz lernt Elise den unverheirateten Fabrikbesitzer Acker kennen. Sie führen eine langjährige Beziehung und ziehen gemeinsam nach Steinau. Zusammen finanzieren sie Dieters Internatsplatz am renommierten Ulrich-von-Hutten-Gymnasium in Schlüchtern. Dieter empfindet jedoch Groll gegenüber seiner Mutter, da sie ihn erneut wegschickt und nennt sie abfällig „Frau Acker“. Nach seinem Schulabschluss leistet Dieter Militärdienst und erhält anschließend ein Stipendium für ein Medizinstudium in Frankfurt, womit er als erster Akademiker der Familie gilt. Elises Eltern kehren nach Frankfurt zurück und wohnen in der Diesterwegstraße 6, wo Dieter während seines Studiums häufig nach Arbeitsschichten in der Bahnhofskneipe „Maier Gust’l“ übernachtet. Nach dem Ende ihrer Beziehung zu Acker findet Elise erneut Zuflucht bei ihren Eltern.

Wiedergutmachungsverfahren
Walter Samstag

Antrag auf Entschädigung beim Landesamt für die Wiedergutmachung Karlsruhe nach BEG von Georg Samstag, 2. Dezember 1955.
Antrag auf Entschädigung beim Landesamt für die Wiedergutmachung Karlsruhe nach BEG von Georg Samstag, 2. Dezember 1955.

Obwohl das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) von 1956 mehrere Verfolgtengruppen, darunter “Asoziale“ und “Berufsverbrecher“, ausdrücklich von der Wiedergutmachung ausschließt, entscheidet sich Vater Georg am 21. November 1955 mit 85 Jahren, einen Antrag auf Entschädigung zu stellen. Erst durch das Allgemeine Kriegsfolgengesetze (AKG-Härterichtlinien von 1988) erhalten diese Gruppen später die Chance, Entschädigungsleistungen zu bekommen.

Grundlage ist die eidesstattliche Aussage des Mithäftlings Friedrich Geißler: „Der Schutzhaftgefangene Walter Samstag wurde 1942 mit dem ersten sogenannten Invalidentransport von Dachau nach Linz überführt und dort vergast. Er war kein Invalider im Sinne der Versorgungsgesetze, sondern litt lediglich einige Monate an einem Beinleiden, das sein Gehen erschwerte. Mit ihm starben damals 299 weitere KZ-Häftlinge den Tod.” Doch der Nachweis, dass Walter „tatsächlich durch nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 1 BEG seiner Freiheit beraubt und im KZ Dachau inhaftiert gewesen ist“, gilt als nicht erbracht. Friedrich Geißler wird nicht als Zeuge geladen. Stattdessen wird der ehemalige Kriminalkommissar Blank befragt. Dieser hat Georg Samstag 1942 beim Antrag zur Überführung von Walters Asche ins Gesicht gelacht mit den Worten: „Was ist denn dabei, wenn der tot ist“, und ihm gedroht, dass ihm das gleiche Schicksal wie seinem Sohn blühe. In der Befragung bestreitet Blank alles und stellt Georg als ausfallend dar. Die Aussage Blanks reicht aus, um Walter als kriminellen statt als politischen Häftling einzuordnen. Die Polizei stellt in Mannheim-Sandhofen Nachforschungen zu Walters Charakter an, später gerät auch Vater Georg ins Visier. Bei den Vernehmungen wird er gewarnt, sich durch Falschaussagen strafbar zu machen. Am 10. April 1956 liegt dem Landesamt für Wiedergutmachung eine Bescheinigung darüber vor, dass Walter am 3. März 1942 mit einem „Invalidentransport transferiert” worden war. Auch dieser Beleg reicht nicht aus. Am 22. September 1956 wird der Antrag abgelehnt. Walters Vorstrafen sowie angeblich verschwiegene Informationen durch den Vater gelten als Beleg für seine „sittlich gesunkenen und kriminellen Eigenschaften”. Erst mit dem Bundestagsbeschluss vom 13. Februar 2020 werden “Berufsverbrecher” ausdrücklich in § 1 Abs. 1 der AKG-Härterichtlinie aufgenommen. Dennoch werden sie nicht als „Verfolgte“, sondern nur als „Opfer“ bezeichnet.

Mai 1957

Porträtfoto von Elise Reger, 1957.

Nach Elises Weiterbildung in einer Servierfachschule, in der sie wichtige Tätigkeiten wie das Tafeldecken und Servieren erlernt, findet sie eine Anstellung im Café Lautenschlager in der Großen Friedbergerstraße. Als der ursprüngliche Inhaber ins Ausland zieht, hat Elise Glück. Sie wird von seinem Nachfolger Marino Tassinari übernommen. Dieser wandelt das Café in die „Cafeteria San Marino“ um und schätzt Elise als Mitarbeiterin sehr.

Oktober 1960

Bild von Elise und ihrer Enkeltochter Beate Klockow (geb. Schäfer), 1960er Jahre.

Trotz ihres Ansehens und Erfolgs kündigt Elise mit Ende 40 bei Tassinari. Sie sehnt sich danach, rauszukommen, gutes Geld zu verdienen und das Leben zu genießen. Elise vermisst ihren alten Beruf und plant, in einem Bordell in Nürnberg zu arbeiten, wo sie zuvor den deutlich jüngeren Zuhälter Helmut kennenlernt, der ihr sympathisch ist. Im Gegensatz zum Bordellbetrieb ist Prostitution nach 1945 nicht strafbar, jedoch streng reglementiert und gesellschaftlich stark stigmatisiert: ein Tabuthema. Elises Entscheidung führt bei ihrem Sohn Dieter zum Bruch. Aus Angst, seinen sozialen Status zu verlieren sowie aus Scham und Sorge um seine Ehe, bricht er den Kontakt zu seiner Mutter vorübergehend ab. Die Geburt seiner Tochter Beate Schäfer im Jahr 1961 verschweigt er Elise vorerst.

Später

Elise im Urlaub in Cattolica, an der adriatischen Riviera in der Provinz Rimini, 1963.

Elise unterstützt ihren Sohn Dieter finanziell während seines Medizinstudiums. Gleichzeitig bemüht sie sich um den Kontakt zu ihrer Enkeltochter, weshalb sie wieder regelmäßig mit Dieter in Verbindung steht. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn bleibt jedoch angespannt. Elise lebt weiterhin in Nürnberg und erhält gelegentlich Besuch von Dieter, seiner Ehefrau und ihrer Enkeltochter. Als Großmutter legt sie großen Wert auf ihr Erscheinungsbild und zeigt sich häufig gepflegt, gerne im Dirndl mit tiefem Ausschnitt und hellblond toupiertem Haar. Aus den Einkünften ihrer Tätigkeit als Prostituierte kauft sie ihrer Enkelin stets adrette Kleidung und legt den Rest für ihre Altersvorsorge zurück. Von ihrem Einkommen gibt sie Helmut täglich fünfzig Mark ab. 1963 unternimmt Elise ihren ersten gemeinsamen Urlaub mit Helmut nach Rimini, wo beide das Leben in vollen Zügen genießen. Elise arbeitet mit Freude, fühlt sich im Kolleginnenkreis wohl und hat keine finanziellen Sorgen. Sie ist erfolgreich in ihrem Beruf und verfügt über zahlreiche Stammkunden. Mit 50 Jahren absolviert Elise ihren Führerschein und leistet sich einen türkisblauen Opel Kapitän mit weißem Dach.

Ende der 60er Jahre

Elise Reger bei einem Ausflug mit ihrem türkisblauen Opel Kapitän, 1960er Jahre.

Mit 57 Jahren endet Elises Beziehung zu Helmut, der sich einer jüngeren Partnerin zuwendet. Sie gibt ihre Wohnung auf und zieht in den Taunus in eine Doppelhaushälfte, in der zuvor ihr Sohn Dieter mit seiner Familie lebte, der inzwischen als Oberarzt tätig ist. Neben ihrem Mobiliar zieht auch ihre verwitwete Mutter mit ein. Für Elise bedeutet dieser Schritt vom eigenständigen Leben in der Großstadt hin zur gemeinschaftlichen Alterswohnung eine große Umstellung. Dennoch genießt sie die großen Familienfeste und Besuche sehr.

1980er

Straßenbahn in Frankfurt am Main, 1983.

1979 verstirbt Elisabetha Schäfer im Alter von 95 Jahren. Elises Sohn Dieter verkauft die Doppelhaushälfte, woraufhin Elise in eine Eigentumswohnung in der Nähe von Frankfurt zieht. Dort genießt sie ihr Leben, reist viel und legt weiterhin großen Wert darauf, sich zu pflegen und anderen zu gefallen.

1987

Aus einem routinemäßigen Eingriff wegen eines Gallenleidens entwickelt sich ein tragisches und vermeidbares Schicksal: Bei der Operation wird ihr Dünndarm verletzt und die daraus folgende Sepsis wird zu spät erkannt. Elise stirbt im Alter von 74 Jahren an den Folgen. Tragischerweise ist es dieselbe Todesursache, die einst fälschlich auf Walters Sterbeurkunde vermerkt wurde. Für die Enkelin Beate bleibt die Geschichte ihrer Großmutter mit diesem plötzlichen Verlust unvollständig, viele Fragen bleiben offen. Elise bleibt in Erinnerung als eine Frau, die sich nie klein machen ließ. Trotz Denunziationen, Diffamierungen und gesellschaftlicher Ausgrenzung blieb Elise unbeugsam. Nach dem Krieg präsentierte sie sich als elegante Frau, die selbstbewusst für sich und ihre Profession einstand.

2013

2013 veröffentlichte Beate Schäfer (heute Klockow), die Enkelin von Elise und Walter Samstag, die Publikation „Weiße Nelken für Elise. Die Liebe meiner Großeltern zwischen Wehrmachtsbordell und KZ“. Darin setzt sie sich eindrücklich mit der Geschichte ihrer Familie auseinander und thematisiert die bis in die Gegenwart reichenden Nachwirkungen nationalsozialistischer Verfolgung innerhalb der Nachkriegsgesellschaft. Im Vordergrund steht die Doppelmoral des NS-Regimes, das sich einerseits durch die Errichtung von Wehrmachtsbordellen selbst zum Profiteur der Prostitution machte, andererseits Männer wie Walter Samstag für vergleichbare Tätigkeiten zum Tode verurteilte. In der Nachkriegszeit galten Betroffene häufig als „zurecht“ inhaftiert. Eine Sichtweise, die Angehörige lange beschämte und zum Schweigen zwang. Auch Elise wird aus einem neuen Blickwinkel betrachtet: eine selbstbewusste Frau, die wirtschaftliche Selbstbestimmung suchte, offen über Geld sprach und sich nicht in vorgegebene gesellschaftliche Rollenmuster einfügte. Die biografische Auseinandersetzung zeigt, wie wichtig es ist, die Geschichten der oftmals verleugneten Opfergruppen sichtbar zu machen, als Voraussetzung für eine differenzierte Erinnerungskultur.

2025

Der Stolperstein für Walter Samstag in Mannheim.

Am 21. Mai 2025 wurde in der Falkenstraße 2a in Mannheim ein Stolperstein zum Gedenken an Walter Samstag vor dem ehemaligen Wohnsitz seiner Eltern verlegt. Initiiert wurde die Verlegung von der Gruppe „Die Namenlosen“.

Autorin: Laura Popesch

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WEITERE FÄLLE

Ilse
Heinrich

Baptist
Weil

Trude
Nohr

Maria
Potrzeba

Heinrich
Diehl

QUELLEN

Gefangenenakte Reger, Elise, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Best. 409/4, Nr. 9406.

Gefangenenakte Samstag, Walter, Generallandesarchiv Karlsruhe, Best. 521 Nr. 6061.

Melderegisterkartei Reger, Elise, MARCHIVUM.

Wiedergutmachungsakte Samstag, Walter, Generallandesarchiv Karlsruhe, Best. 480 Nr. 23366.

Zöglingsakte Samstag, Walter, Generallandesarchiv Karlsruhe, Best. 484-1 Nr. 5582.

ONLINEQUELLEN

Kuppelei, Lexikoneintrag der Bundeszentrale für politische Bildung: bpb.de.

Schloss Hartheim, ehemalige Tötungsanstalt in Linz: schloss-hartheim.at.

Stolperstein für Walter Samstag, MARCHIVUM:
marchivum.de.

Topografie des Nationalismus in Hessen, Landesgeschichtliches Informationszentrum Hessen:
lagis-hessen.de.

Wehrmacht und Prostitution im besetzten Frankreich, Artikel im Forschungsmagazin der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg: uol.de.

Weltwirtschaftskrise, Deutsches Historisches Museum: dhm.de.

SEKUNDÄRLITERATUR

Goschler, Constantin, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005.

Meinen, Insa, Wehrmacht und Prostitution im besetzten Frankreich, Bremen, 2002.

Schaefer, Beate, Weiße Nelken für Elise. Die Liebe meiner Großeltern zwischen Wehrmachtsbordell und KZ, Freiburg / Basel / Wien, 2013.

Schnorr, Mirjam, Prostitution im „Dritten Reich“. Zur Situation von „asozialen Frauen“ in ausgewählten badischen und württembergischen Großstädten zwischen 1933 und 1945, in Gress, Daniela (Hrsg.), Minderheiten und Arbeit im 19. und 20. Jahrhundert: Aspekte einer vielschichtigen Beziehungsgeschichte, Heidelberg, 2019, S. 185–205, online verfügbar:
doi.org/10.11588/heibooks.404.c7061.

Themenheft „Wiedergutmachung und Gerechtigkeit“, Aus Politik und Zeitgeschichte 63 (2013) S. 25–26, online verfügbar: bpb.de.

BILDQUELLEN

Alliierte in Straßburg

Lt. Noah, 163rd Signal Photo Co., Company E, 324th Infantry Regiment, 44th Infantry Division, 24.11.1944, flickr, public domain, online verfügbar: flickr.com.

Antrag Wiedergutmachung

Antrag auf Entschädigung, 02.12.1955, Wiedergutmachungsakte Samstag, Walter, Generallandesarchiv Karlsruhe, 480 Nr. 23366, online verfügbar: landesarchiv-bw.de.

Arbeitslose SA-Männer, Berlin 1932

Autor:in unbekannt, Berlin, arbeitslose SA-Männer, 1932, Bundesarchiv, Bild 146-1985-054-02, online verfügbar: commons.wikimedia.org. Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE.

Badeanstalt Mosler Frankfurt

Badeanstalt Mosler, Frankfurt, 1931, BArch, Bild 183-R12854 / o. Ang. Hinweis: Trotz großer Recherchebemühungen ist es uns nicht gelungen, für das Bild Urheber:innen bzw. Rechteinhaber:innen ausfindig zu machen. Sollten Sie Rechte an dem verwendeten Bild innehaben, melden Sie sich bitte bei uns unter info@nsberatung.de.

Elise 1957

Autor:in unbekannt, Porträtfoto Elise Reger, 1957, Privatbesitz Beate Klockow.

Elise 1960er

Autor:in unbekannt, Elise Reger neben ihrem Opel Kapitän, 1960er Jahre, Privatbesitz Beate Klockow.

Elise Firmung

Autor:in unbekannt, Elise Reger bei ihrer Firmung, Privatbesitz Beate Klockow.

Elise in Cattolica 1963

Autor:in unbekannt, Elise Reger in Cattolica, 1963, Privatbesitz Beate Klockow.

Elise Reger um 1937

Autor:in unbekannt, Elise Reger um 1937, Privatbesitz Beate Klockow.

Elise und Beate

Autor:in unbekannt, Elise Reger und Enkeltochter Beate Klockow, 1960er Jahre, nachträglich bearbeitet, Privatbesitz Beate Klockow.

Elise und Sohn Dieter

Autor:in unbekannt, Elise Reger mit ihrem Sohn Dieter, 1941, Privatbesitz Beate Klockow.

Elise und Walter 1938

Autor:in unbekannt, Elise Reger und Walter Samstag im botanischen Garten von Schloss Herrenhaus bei Hannover, 1938, Privatbesitz Beate Klockow.

Frankfurt 1933

picture alliance / SZ Photo | Scherl.

Frankfurt am Main Kaiserstraße

Junghändel, Max, Frankfurt a. M. Kaiserstrasse, 1898, public domain, online verfügbar: commons.wikimedia.org.

Frankfurt Friseursalon

Frankfurt, ca. 1930-1935, BArch, Bild 146-2025-1004 / o.Ang.

Frankfurt Straßenbahn 1983

Hösler, Robert, August 1983, Frankfurt Straßenbahn 1983, CC BY-SA 4.0, online verfügbar: commons.wikimedia.org.

GeschlKrG

Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 22.02.1927, RGBl. I 1927, Nr. 9, S. 61.

Mannheim Rheinbrücke

Mannheim Rheinbrücke, 16.06.1945, MARCHIVUM, Bildsammlung, KF000442.

Metzgergiessen Straßburg

Burckel, Roland, rue des Bouchers/Metzjergiesse, 29.11.2009, Archi-Wiki, CC BY-SA 3.0 FR, online verfügbar: archi-wiki.org.

Mitgliedsbuch NSDAP

Mitgliedsbuch der NSDAP, 1938, Deutsches Historisches Museum.

Polizei 1933

Polizisten in Berlin, 05.03.1933, BArch, Bild 102-14381/ Pahl,Georg.

Schreibstubenkarte Walter Samstag

Dokumente mit Namen ab Saletzkej, Grigorij, 1.1.6.7./10742972/ITS Digital Archive, Arolsen Archives.

Soldatenbordell Brest

Wehrmachtsbordell, 1940, BArch, Bild 101II-MW-1019-03 / Dietrich.

Stolperstein Walter Samstag

Stolperstein Walter Samstag, MARCHIVUM, Foto: Marco Brenneisen.

Strafakte Elise Reger

Schreiben Amtsgericht Frankfurt a. M. vom 08.05.1937, Strafakte Elise Reger, HHStAW, Bestand 409/4, Nr. 9406.

Soldatenbordell Frankreich

Dietrich, Frankreich, Brest, Soldatenbordell, 1940, Bundesarchiv, Bild 101II-MW-1019-10, online verfügbar: wikimedia.org. Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE.

Strasbourg Bombardierung

Archives de la Ville et de l’Eurométropole de Strasbourg, 1 Fi 102/111, Spehner, Charles.

Telegramm Lagerkommandant Piorkowski

Telegramm Lagerkommandant, 28.05.1942, Privatbesitz Beate Klockow.

Ulrich-von-Hutten-Gymnasium

Dietrich, Reinhard/Wikimedia, Logo des Ulrich-von-Hutten-Gymnasium, 23.03.2013, public domain, online verfügbar: commons.wikimedia.org.

Walter Samstag um 1928

Porträtfoto Walter Samstag, um 1928, Privatbesitz Beate Klockow.

Walter und Elise im Auto

Walter Samstag und Elise Schäfer, 1938, Privatbesitz Beate Klockow.

Wehrmachtsbordell Ausschank

Wehrmachtsbordell Brest, 1940, BArch, Bild 101II-MW-1019-14/ Dietrich.

Wehrmachtsbordell Frankreich

Wehrmachtssoldaten und Prostituierte, 1940, BArch, Bild 101II-MW-1019-13/ Dietrich.

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Elise 1959 im Eiscafé Tassinari

Autor:in unbekannt, Elise Reger in der „Cafeteria San Marino” in Frankfurt a. M., 1959, Privatbesitz Beate Klockow.

KZ Dachau

Survivors stand behind the barbed wire fence in Dachau. United States Holocaust Memorial Museum Photo Archives #04497. Courtesy of National Archives and Records Administration, College Park. Copyright of United States Holocaust Memorial Museum.

Mannheim 1945

Mannheim Paradeplatz, 20.-21.09.1945, MARCHIVUM, Bildsammlung, KF041004.

Meldekarte Elise Reger

Meldebogen Elise Reger, 1937, MARCHIVUM; Melderegisterkartei.

Polizeigefängnis Frankfurt

Vömel, Gottfried, Gerichtsstraße Ecke Klapperfeldstraße von Osten, rechts Gefängnis, 1910, Digitalisierung: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a. M., CC BY-SA 4.0, online verfügbar: deutsche-digitale-bibliothek.de.

Straßburg 1942

Straßburg, 11.10.1942, BArch, Bild 212-403 / Proietti, Ugo.

Soldatenbordell Frankreich

Soldaten im Bordell, 1940, BArch, Bild 101II-MW-1019-11/ Dietrich.

Walter Samstag

Walter Samstag im botanischen Garten, Hannover, 1938, Privatbesitz Beate Klockow.

Walter Samstag mit Hund

Walter Samstag bei Hannover, 1938, Privatbesitz Beate Klockow.

Wehrmachtsbordell Brest

Deutsche Soldaten im Wehrmachtsbordell, 1940, BArch, Bild 101II-MW-1019-20/ Dietrich.