Eduard Berger und seine Tochter Rosa neben ihrem Wohnwagen.
Aufgrund der ungeklärten Herkunftsgeschichte der Jenischen wird ihr Status als Volksgruppe teilweise angezweifelt. Doch die heutigen Jenischen fühlen sich als transnationales Volk, verbunden durch Abstammung, Kultur und eine gemeinsame Sprache. Dieses Selbstverständnis wiegt schwerer als das Urteil von Außenstehenden.
Die meisten Jenischen leben in der Schweiz, in Österreich sowie in Süd- und Südwestdeutschland. Während die überwiegende Mehrheit der Jenischen heute sesshaft lebt und unterschiedlichsten Berufen nachgeht, war ihre traditionelle Lebensweise über Jahrhunderte geprägt vom mobilen bzw. ambulanten Handel. Das heißt, dass viele jenische Familien als Händler:innen dauerhaft umherzogen oder von ihrem Wohnsitz aus regelmäßig längere Reisen unternahmen, um ihre Kund:innen mit Waren des täglichen Gebrauchs zu versorgen. Typische Berufe für Jenische waren und sind daneben die Schaustellerei und der Schrotthandel.
Zur Herkunft der Jenischen bestehen unterschiedliche Theorien. Klar ist, dass spätestens ab dem 16. Jahrhundert Jenische in historischen Quellen auftauchen. In der Art dieser Quellen zeigt sich jedoch die größte Problematik bei der Erforschung jenischer Geschichte: Es gibt über einen langen Zeitraum hinweg keine schriftlichen Selbstzeugnisse aus der jenischen Community. In ihrer Kultur wurden Traditionen mündlich überliefert. Erwähnungen in schriftlichen Quellen sind meist aus behördlicher Sicht verfasst und spiegeln Vorurteile und eine abwertende Haltung gegenüber der jenischen Lebensweise wider. Jenische wurden darin unter Generalverdacht gestellt, auf ihren Handelsreisen Straftaten zu begehen und mit “Räuberbanden” zusammenzuarbeiten. Die Lebenswelt von Jenischen überschnitt sich häufig mit der von Sinti:zze und Rom:nja, die ebenfalls mobil lebten, und Jüdinnen und Juden, die ebenfalls Handel betrieben. Auch diese Gruppen wurden von der Mehrheitsgesellschaft geächtet. Schon lange vor der NS-Zeit waren Jenische aufgrund dieser Stigmata Diskriminierung ausgesetzt, obwohl viele Menschen die Dienstleistungen des Handels an der Haustür und auf Märkten gerne in Anspruch nahmen. Bevor in den 1970er Jahren die individuelle Mobilität rasant anstieg, waren jenische Händler:innen für die ländliche Bevölkerung oft die einzige Möglichkeit, bestimmte Waren und Neuigkeiten aus den umliegenden Orten zu erhalten.
Robert Berger beim Messerschleifen, ca. 1970er Jahre.
Robert Ritter steht mit einem Polizisten neben einer Frau und sieht in einen Aktenordner.
Es gibt noch keine umfassende Forschung zur Verfolgung von Jenischen im Nationalsozialismus. Daher ist auch keine gesicherte Aussage darüber möglich, wie viele Jenische in der NS-Zeit von Verfolgung betroffen waren. Belegt ist durch Geschichten wie die von Viktor Berger, dass Jenische Opfer von Zwangssterilisierungen und Deportationen wurden. Die staatlichen Behörden nahmen jenische Familien in besonderem Maße ins Visier, häufig entzogen sie ihnen Kinder und verschleppten diese in Heime und Anstalten; diese Praxis hatte auch nach der NS-Zeit und insbesondere in der Schweiz Bestand und schlägt sich bis heute bei vielen Familien in Traumata nieder.
Die Verfolgung der Jenischen im Nationalsozialismus war zunächst eng verknüpft mit der Verfolgung von Rom:nja und Sinti:zze. Diejenigen von ihnen, die einen traditionellen nicht-sesshaften oder halb-sesshaften Lebensstil führten, waren an vielen Orten schon zu Beginn der NS-Herrschaft von Verschärfungen bei der Vergabe von Wandergewerbescheinen betroffen. Die feindselige Einstellung von Staat und Mehrheitsgesellschaft gegenüber den fahrenden Völkern reicht in der Geschichte weit zurück. Seit dem 19. Jahrhundert gab es vermehrt Bestrebungen, sie gesetzlich zu einem sesshaften Lebensstil zu zwingen, was viele Jenische in die Armut und in die Illegalität trieb. Die Verweigerung von Pässen und Wandergewerbescheinen war existenzbedrohend.
Am 14. Juli 1933 erließ die nationalsozialistische Regierung das entscheidende Gesetz, um im Sinne der “Rassenhygiene” Zwangssterilisationen möglich zu machen. Es trat im darauffolgenden Jahr in Kraft. Demnach konnte gegen seinen Willen unfruchtbar gemacht werden, wem die Diagnose “erbkrank” angehangen wurde „Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet:
Die Definition von “Erbkrankheit” war im Nationalsozialismus nicht wissenschaftlich, sondern ideologisch bestimmt. Gerade der “angeborene Schwachsinn” wurde von Gesundheitsbehörden und Ärzt:innen genutzt, um arme, unangepasste oder weniger gebildete Menschen zwangssterilisieren zu lassen – also Menschen, die wie viele Jenische im NS als “asozial” gebrandmarkt wurden. Eine Erweiterung des Gesetzes von 1935 erlaubte neben der Zwangssterilisation nun auch die “freiwillige” Kastration von Männern mit “entartetem Geschlechtstrieb” und Abtreibungen bei “erbkranken” schwangeren Frauen. Rund 350.000 Menschen wurden in der NS-Zeit auf Grundlage des “Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht. Bei den Eingriffen starben 5.000 bis 6.000 Frauen und rund 600 Männer.
Propaganda des Reichsnährstandes zur “Vermehrung der Minderwertigen”
aus dem Jahr 1936.
Stolperstein für Menschen ohne festen Wohnsitz in Berlin.
Mit einem Runderlass im Dezember 1937 vereinheitlichte das Reichsinnenministerium die sogenannte “vorbeugende Verbrechensbekämpfung”. Hinter diesem NS-Begriff verbergen sich Maßnahmen, die sich gezielt gegen Menschen aus der Unterschicht richteten, darunter Wohnungslose, Prostituierte, Suchtkranke, Arbeitslose und Wandergewerbetreibende. Letztere waren viele der Jenischen und der Sinti:zze und Romn:ja.
Der “Grundlegende Erlaß über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei” vom 14. Dezember 1937 erlaubte es der Polizei, jemanden in “Vorbeugungshaft” zu nehmen, der „durch sein asoziales Verhalten die Allgemeinheit gefährdet” – diese Formulierung ließ absichtlich einen riesigen Ermessensspielraum. Kriminalbeamte konnten also Menschen festnehmen und in Konzentrationslager schicken, die sie als “asozial” einstuften, ohne eine konkrete Straftat nachweisen oder gar ein Gerichtsurteil abwarten zu müssen. Die Gruppe der “Asozialen” wird in den zugehörigen Durchführungsrichtlinien vom 4. April 1938 genauer beschrieben: „Personen, die durch geringfügige, aber sich immer wiederholende Gesetzesübertretungen sich der in einem nationalsozialistischen Staat selbstverständlichen Ordnung nicht fügen wollen (z. B. Bettler, Landstreicher (Zigeuner), Dirnen, Trunksüchtige, mit ansteckenden Krankheiten, insbesondere Geschlechtskrankheiten behaftete Personen, die sich den Maßnahmen der Gesundheitsbehörden entziehen)”.
Ein weiteres Mittel der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung” war die „polizeiliche planmäßige Überwachung”, bei der Betroffenen Auflagen gemacht werden konnten, die schwere Eingriffe in das Privatleben bedeuteten.
Im Laufe des Jahres 1938 erfolgten auf Befehl Heinrich Himmlers mehrere Verhaftungswellen durch Gestapo und Kripo. Die Opfer waren von den Behörden als “arbeitsscheu” oder “asozial” abgestempelt worden. Mindestens 10.500 Menschen waren von der als “Aktion Arbeitsscheu Reich” bekannten Willkürmaßnahme betroffen und wurden in die Konzentrationslager Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau verschleppt, darunter viele jüdische Menschen und solche, die als “Zigeuner” eingestuft waren.
Da Jenische typischerweise von den Nationalsozialist:innen als “asozial” bzw. “arbeitsscheu” oder als “Berufsverbrecher” verfolgt worden waren, wurde ihnen sehr lange jegliche Entschädigung verwehrt. Das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) sah keine Entschädigung für die als “Asoziale” und “Berufsverbrecher” verfolgten Opfer vor. Denn obwohl faktisch “rassische” oder politische bzw. NS-ideologische Gründe für die Verfolgung vorlagen, übernahmen die Behörden schlicht die Angaben der Täter:innen und damit die Argumentation der Nazis. Die offizielle Anerkennung von “Asozialen” und “Berufsverbrechern” als Verfolgte des Nationalsozialismus durch den Deutschen Bundestag erfolgte erst 75 Jahre nach Ende der NS-Zeit im Jahr 2020 – für viele von ihnen zu spät.
Auch für das Leid, das durch die Zwangssterilisierungen bei den Betroffenen entstanden war, gab es lange keine Anerkennung. Im Jahr 1961 verhandelte der zuständige Bundestagsausschuss über Entschädigungszahlungen für zwangssterilisierte NS-Verfolgte. Als Sachverständige wurden hierzu Ärzte gehört, die selbst an “Euthanasie”-Verbrechen beteiligt waren. Sie rechtfertigten wenig überraschend die Zwangssterilisierungen im Sinne der “Erbhygiene” und verteidigten das Handeln der beteiligten Mediziner:innen als verantwortungsvoll, solange dem Eingriff ein Verfahren vorausgegangen sei. Das Erbgesundheitsgesetz sei kein NS-Unrecht gewesen, sondern entsprach „in seinem Kerngehalt wirklich der damaligen und auch der heutigen wissenschaftlichen Überzeugung“. Entsprechend dieser Aussagen lehnte die Regierung Entschädigungen für Zwangssterilisierte ab. Erst ab 1980 konnten die Betroffenen eine einmalige Entschädigungsleistung in Höhe von 5.000 DM beantragen. Acht Jahre später entschied der Bundestag, dass die auf der Grundlage des Erbgesundheitsgesetzes vorgenommenen Zwangssterilisierungen nationalsozialistisches Unrecht waren. Erst 1998 wurden die Entscheidungen der Erbgesundheitsgerichte per Gesetz aufgehoben.
Autorin: Alina Besser
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Westermann, Stefanie, Medizingeschichte: „Trag ich bis ans Lebensende dieses Mahnmal, eine Gezeichnete“, in: Deutsches Ärzteblatt 11/2011.
Rosa Bibelli-Berger, Nichte von Viktor und sein Bruder Eduard Berger
Die Bildrechte für die Fotos der Familie Berger liegen bei Manuel Trapp.
Viktor Bergers Bruder Robert beim Messerschleifen
Die Bildrechte für die Fotos der Familie Berger liegen bei Manuel Trapp.
Robert Ritter Überprüfung 1936-1940
Fotograf:in unbekannt, Dr. Robert Ritter mit alter Frau und Polizist, Bundesarchiv, R 165 Bild-244-71 / CC-BY-SA 3.0, online verfügbar:
wikimedia.org.
Ausstellungsbild des Reichsnährstandes
Ausstellungsbild des Reichsnährstandes: „Die Gefahr der stärkeren Vermehrung der Minderwertigen“; © Volk und Rasse, 11. Jg., 1936, Rechteinhaber:in unbekannt.
Stolperstein "Asozial und arbeitsscheu"
OTWF/Wikimedia Commons, Stolperstein_Alexanderplatz_2_(Mitte)_Kopfstein, Berlin 2016, CC-BY-SA 3.0, online verfügbar:
wikipedia.org
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