Die Wiener “Städtische Jugendfürsorgeanstalt ‘Am Spiegelgrund’” eröffnete am 24. Juli 1940 in neun Pavillons auf dem Gelände der “Heil- und Pflegeanstalt ‘Am Steinhof’”. Die erwachsenen Patient:innen, die zuvor dort untergebracht waren, waren Opfer der NS-Krankenmorde der “Aktion T4” geworden. Allein in der NS-Zeit wurde die Einrichtung mehrfach umbenannt, was mutmaßlich der Vertuschung diente. Denn bis Kriegsende wurden dort ca. 800 Kinder und Jugendliche mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten systematisch ermordet. Sie galten als “lebensunwertes Leben”, das in der nationalsozialistischen Gesellschaft keinen Platz haben durfte. In offiziellen Dokumenten hieß der Auftrag zur Ermordung der Kinder “Aufnahme der Fälle des Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden sowie von debilen, bildungsunfähigen Minderjährigen”.
Das Gelände des psychiatrischen Krankenhauses “Am Steinhof” im Jahr 1932.
NS-Propaganda zur “Vermehrung der Minderwertigen” aus dem Jahr 1936.
Kinder, die nach Spiegelgrund kamen, wurden zunächst ärztlich untersucht. Bei diesen Untersuchungen standen zwei Fragestellungen im Fokus: ob die Krankheit und/oder Behinderung des betroffenen Kindes erblich bedingt war und ob das Kind jemals “von Nutzen für die Volksgemeinschaft” sein würde. Um die Gefahr einer Erbkrankheit zu bestimmen, ging das Personal der Klinik “Am Spiegelgrund” weit über die Erstuntersuchung hinaus. Überaus sorgfältig überprüften Mitarbeiter:innen die Eltern und Verwandten der Kinder und erfassten möglichst viele Details zu Krankheiten und Auffälligkeiten im Lebenswandel. Die Definition von “Erbkrankheit” war im Nationalsozialismus nicht wissenschaftlich, sondern ideologisch bestimmt. So erklärten die Nationalsozialist:innen beispielsweise auch Alkoholsucht zur “Erbkrankheit”. Weibliche Jugendliche, die als “erbkrank” diagnostiziert worden waren und von denen angeblich eine “Fortpflanzungsgefahr” ausging, wurden in Spiegelgrund zwangssterilisiert.
Überlebende der Einrichtung “Am Spiegelgrund” berichten von Mangelernährung und schweren Misshandlungen. Es ist belegt, dass in Spiegelgrund auch experimentelle Untersuchungen durchgeführt wurden, wie die Luftencephalographie, die äußerst schmerzhaft war und bei Kindern oft zum Tod führte. Ärzt:innen waren gierig nach neuen “Erkenntnissen” zu den Diagnosen der Kinder. Die Uniklinik Wien, genauer gesagt der Dozent Dr. Elmar Türk, missbrauchte mindestens drei Kinder aus Spiegelgrund für die Testung von Impfstoffen. Diese Kinder wurden als Teil der Versuche ermordet, um sie anschließend sezieren zu können. Den meisten der ermordeten Kinder und Jugendlichen entnahm man in der Pathologie der Klinik Gehirn und Rückenmarksstränge, um diese zu präparieren und zu Forschungszwecken zu nutzen.
Pavillon 17 im Jahr 2010. Hier waren Kinder der Klinik “Am Spiegelgrund” untergebracht.
Ausschnitt aus der Zeitung “Neues Österreich” vom 16. Juli 1946 über den ersten Steinhof-Prozess.
Dr. Erwin Jekelius war von der Gründung der Einrichtung “Am Spiegelgrund” bis zum Januar 1942 ärztlicher Leiter. Er war zudem Referent im Gesundheitsamt Wien und “T4”-Gutachter. Diese Tätigkeiten machten ihn ab 1945 zum gesuchten Kriegsverbrecher. 1945 in Wien verhaftet und 1948 in Moskau zu 25 Jahren Haft verurteilt, starb er 1952 in russischer Gefangenschaft an Krebs.
Im Jahr 1946 wurden Dr. Ernst Illing sowie Dr. Marianne Türk und Dr. Margarethe Hübsch vor dem Volksgericht Wien angeklagt. Als Nachfolger von Erwin Jekelius erhielt Ernst Illing wegen “vollbrachten Meuchelmordes” und “Verbrechen der Quälereien und Misshandlungen” das Todesurteil, das am 13. November desselben Jahres vollstreckt wurde. Marianne Türk, die als behandelnde Ärztin Meldungen an den Reichsausschuss und tödliche Injektionen vornahm, wurde zu zehn Jahren Kerkerhaft verurteilt. Nach zwei Jahren Haftzeit wurde sie aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes auf Bewährung entlassen. Die restliche Strafzeit wurde ihr 1952 erlassen.
Margarethe Hübsch, ebenfalls behandelnde Ärztin, leugnete im Prozess, etwas mit den Morden zu tun gehabt zu haben. Da das Gericht keine Beweise für ihre Beteiligung an den Morden sah, wurde sie freigesprochen. Sie war später wieder als Ärztin tätig. Auch Hans Bertha, “T4”-Gutachter und für ein halbes Jahr Leiter der Klinik “Am Spiegelgrund”, wurde nie belangt. Er konnte seiner Karriere als Neuropsychiater ungehindert nachgehen. Die Pflegerin Anna Katschenka wurde 1948 wegen Totschlags zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. 1950 wurde sie auf Bewährung aus der Haft entlassen. Auch sie arbeitete wieder als Kinderkrankenschwester.
Nach der teilweise erfolgten Strafverfolgung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren wurde die weitere Aufarbeitung der NS-Medizinverbrechen in Österreich jahrzehntelang vernachlässigt. Erst 2002 wurden die präparierten Gehirne von 789 Opfern der Tötungsanstalt “Am Spiegelgrund” in einer Grabstelle auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt, nachdem man sie in einem Kellerraum des Otto-Wagner-Spitals gefunden hatte. Im selben Jahr eröffnete die Ausstellung “Der Krieg gegen die ‘Minderwertigen’. Zur Geschichte der NS-Medizin in Wien”, die im Jahr 2008 aktualisiert wurde. Sie wird vom Dokumentationsarchiv Österreichischer Widerstand betreut und ist heute in einem Gebäude der ehemaligen Anstalt Steinhof zu sehen, das zur Klinik Penzing gehört. Im Jahr 2003 entstand zudem ein Mahnmal aus leuchtenden Stelen auf dem Klinikgelände.
Das Mahnmal aus leuchtenden Stelen vor der heutigen Klinik Penzing in Wien.
Autorin: Alina Besser
Zeitung “Neues Österreich”, Ausgaben vom 16. Juli 1946, 19. Juli 1946 und 14. November 1946, online verfügbar unter: data.onb.ac.at.
Benzenhöfer, Udo, NS-„Kindereuthanasie“: „Ohne jede moralische Skrupel“, in: Deutsches Ärzteblatt 97 (Jg. 2000, Heft 42), A 2766–2772.
Dahl, Matthias, Die Tötung behinderter Kinder in der Anstalt Am Spiegelgrund 1940 bis 1945, in: Gabriel, Eberhard / Neugebauer, Wolfgang (Hrsg.), NS-Euthanasie in Wien, Wien 2000, S. 75-92.
Häupl, Waltraud, Die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund. Gedenkdokumentation für die Opfer der NS-Kindereuthanasie in Wien, Wien 2006.
Mende, Susanne, Die Wiener Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“
in der Zeit des NS-Regimes in Österreich, in: Gabriel, Eberhard / Neugebauer, Wolfgang (Hrsg.), NS-Euthanasie in Wien, Wien 2000, S. 61-73.
Vörös, Lukas, Kinder- und Jugendlicheneuthanasie zur Zeit des Nationalsozialismus am Wiener Spiegelgrund, Wien 2010.
“Am Spiegelgrund” Artikel auf Wien Geschichte Wiki www.geschichtewiki.wien.gv.at.
Gedenkstätte Steinhof. Zur Geschichte der NS-Medizin in Wien www.gedenkstaettesteinhof.at/.
“Kindheit am ‘Spiegelgrund’”, Der Report – 3sat, Folge 144: Fall Gross tvthek.orf.at.
Bericht des Überlebenden Friedrich Zawrel: gedenkstaettesteinhof.at.
Artikel “2000: Der Prozess gegen Heinrich Gross” im Lexikon des HdGÖ: hdgoe.at.
Ausstellungsbild des Reichsnährstandes
Ausstellungsbild des Reichsnährstandes: Die Gefahr der stärkeren Vermehrung der Minderwertigen“; © Volk und Rasse, 11. Jg., 1936, Rechteinhaber:in unbekannt.
Mahnmal Penzing Klinik
Haeferl/wikimedia, Mahnmal für die Kinder vom Spiegelgrund, CC BY-SA 3.0 Deed, online abrufbar unter: wikimedia.org. Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE DEED.
Neues Österreich 16-07-1946 Ausschnitt Prozess
“Die Kindermörder vom Steinhof auf der Anklagebank”, Zeitung “Neues Österreich”, 16.7.1946, online verfügbar unter: data.onb.ac.at.
Pavillon 17 Spiegelgrund
Kaelber, Lutz, pavilon172010, © Lutz Kaelber.
Steinhof Wien Luftbild 1932
Mittelholzer, Walter, Otto-Wagner-Spital, Steinhof, Wien, 1932, gemeinfrei, online abrufbar unter: wikimedia.org.
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