Über den Umgang mit Menschen, die sich nicht in ”normale” Lebens- und Arbeitsverhältnisse einfügen, wurde schon vor 1933 in der Justiz, der Wohlfahrt und der Fürsorge, der Politik und der Medizin diskutiert. Es ging um die Disziplinierung von gesellschaftlichen Außenseitern aus armen Verhältnissen, die kein den Normen der Mehrheitsgesellschaft entsprechendes (Arbeits-) Leben führen konnten. Wie in vielen anderen Fällen konnten die Nationalsozialisten bei der Stigmatisierung von Menschen als „Asoziale“ und ihrer Verfolgung an bestehende Denkmuster, Werte- und Moralvorstellungen sowie Praktiken anknüpfen, diese jedoch im nationalsozialistischen Vernichtungswahn radikalisieren.
Voraussetzung für die Verfolgung und Vernichtung von Millionen Menschen, unter ihnen auch die als „asozial“ Stigmatisierten, war die Idee der „Volksgemeinschaft“. Es war ein von rassistischen und eugenischen Gedanken durchsetztes Konstrukt einer idealisierten Lebensgemeinschaft. Im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Fürsorgepolitik stand nicht mehr die bedürftige Einzelperson, sondern die Stärkung dieser „Volksgemeinschaft“. Während Menschen mit jüdischer Herkunft oder Sinti und Roma von vornherein als „artfremd“ und dadurch nie der „Volksgemeinschaft“ zugehörend galten, mussten „Asoziale“ erst aktiv als „minderwertig“ ausgegrenzt werden. Ihr Vergehen war zumeist die Arbeitsverweigerung – in einem System, in dem Arbeit zum Dienst an Volk und Vaterland stilisiert wurde.
Der Begriff „Asoziale“ ist keine Selbstbezeichnung, sondern eine Fremdbezeichnung von denjenigen, die die Diskriminierung steuern – in diesem Falle der Nationalsozialisten. Wie bei der Stigmatisierung aller Verfolgtengruppen waren die Merkmale willkürlich, die die Menschen als „gemeinschaftsfremd“ definierten. Dabei unterstellte der Begriff „Asoziale“ der Gruppe eine Homogenität, die es so nicht gab. Vielmehr unterschieden sich die sozialen und biografischen Lebensumstände der Verfolgten sowie die Gründe ihrer Verfolgung häufig deutlich. Wer genau zu diesem Personenkreis gehörte, den die Nationalsozialisten als „asozial“ bezeichneten, blieb unscharf.
Anfangs zeichnete sich noch das Bemühen um eine Eingrenzung des Personenkreises ab: Bettler, Landstreicher, Obdach- und Wohnungslose oder Prostituierte wurden als „asozial“ verunglimpft. Mit der Zeit waren jedoch zunehmend Menschen gemeint, deren Lebensführung und Arbeitsmoral allgemein als abweichend und bedrohlich für die „Volksgemeinschaft“ – als „gemeinschaftsfremd“ – wahrgenommen wurden. Diese Unschärfe war durchaus gewollt, da so der Personenkreis der „Asozialen“ beliebig erweitert werden konnte.
Im Gegensatz zur Verfolgung der Menschen mit jüdischer Herkunft entwickelten die Nationalsozialisten in Bezug auf die „Asozialen“ über die allgemeinen Ziele der Aussonderung aus der „Volksgemeinschaft“ und der Vernichtung keine mittel- oder langfristigen Pläne. Die Verfolgung der „Asozialen“ verlief in Etappen und verschärfte sich im Laufe der Jahre. Um den Schein des wirtschaftlichen Aufschwungs zu erwecken, waren nach 1933 zunächst Bettler im Visier der Nationalsozialisten, zu Kriegsbeginn rückten immer häufiger Frauen, die als Prostituierte arbeiteten, in den Vordergrund. Zehn Jahre später reichten schon geringe Abweichungen vom erwarteten Arbeitsverhalten, um in eine Einrichtung zur Zwangsarbeit eingewiesen zu werden.
In den ersten Jahren nach 1933 handelten bei der Verfolgung der „Asozialen“ die Kommunen auffallend eigeninitiativ – abgesehen von der Bettlerrazzia im September 1933, bei der reichsweit schätzungsweise mehrere tausend Menschen für kürzere oder längere Zeit inhaftiert wurden. Kommunale Entscheidungsträger verhängten unterschiedliche Zwangsmaßnahmen gegen als “arbeitsscheu” geltende Fürsorgeempfänger.
Das Jahr 1938 war in mehrfacher Hinsicht ein Wendepunkt: Mit dem Grundlegenden Erlass für die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei vom Dezember 1937 war die Vorbeugehaft nicht mehr nur bei „Gewohnheits- und Berufsverbrechern“ möglich, sondern wurde auf die Personengruppe der „Asozialen“ ausgeweitet. Bei der „Aktion Arbeitsscheu Reich“, die der Reichsführer SS Heinrich Himmler Anfang 1938 veranlasste, wurden reichsweit sesshafte und nicht-sesshafte „arbeitsscheue“ Menschen verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt.
Die Einrichtung des Konzentrationslagers Ravensbrück und des Jugendkonzentrationslagers Uckermark für Mädchen und junge Frauen sowie des Jugendkonzentrationslagers für Jungen und junge Männer in Moringen fielen in diese Phase der verstärkten Inhaftierung der „Asozialen“ in Konzentrationslagern. Während die Einweisung in die Konzentrationslager für die Kommunen eine finanzielle Entlastung bedeutete, verschärfte sich die Lage für die Verfolgten dramatisch: Nun entschieden seltener Fürsorgeämter oder Gerichte über ihr Schicksal, sondern polizeiliche Institutionen. Außerdem musste die Vorbeugungshaft – im Gegensatz zur Schutzhaft – erst später überprüft werden. Während bei der Unterbringung in einer Fürsorgeeinrichtung, wie beispielsweise in einem Arbeitshaus, zumindest die Chance auf Entlassung gegeben war, brachte die Deportation in die Konzentrationslager eine längere Haftzeit und vielen den Tod. Einrichtungen der Fürsorge spielten aber nach wie vor eine wichtige Rolle bei der Erfassung und Kontrolle der „Asozialen“. Von hier aus konnten die Betroffenen in die Konzentrationslager verbracht werden.
Insgesamt beteiligten sich viele Personen und Institutionen an der Verfolgung der „Asozialen“, ohne dass eine eindeutige Führungsrolle erkennbar war. Viele verschafften sich einen Zugriff auf die Betroffenen, handelten aber in Konkurrenz zueinander. Einigkeit bestand letztlich nur im Ziel: der dauerhaften Entfernung der „Asozialen“ aus der „Volksgemeinschaft“.
In den Konzentrationslagern kennzeichneten die Nationalsozialisten die Häftlinge mit „Winkeln“. Diese „Winkel“ waren Dreiecke aus farbigem Stoff, wobei jeweils eine Farbe für eine bestimmte Gruppe stand. Diese Markierungen sollten dem Wachpersonal helfen zu erkennen, welchen Gruppen die Häftlinge angehörten. Neben der Farbkodierung gab es noch weitere Kodierungen wie zum Beispiel für die Herkunftsländer der Häftlinge. Die Farbkodierungen bedeuteten: Zwei gelbe, aufeinandergelegte „Winkel“ bildeten den „Judenstern“, den Menschen mit jüdischer Herkunft – auch außerhalb der Konzentrationslager – tragen mussten. Einen roten „Winkel“ erhielten die politischen Häftlinge. Als „asozial“ verfolgte Menschen mussten den schwarzen „Winkel“ tragen. Hier fand jedoch noch eine Ausdifferenzierung statt, indem Sinti und Roma später braune „Winkel“ erhielten. „Kriminelle“ bekamen den grünen „Winkel“, Homosexuelle einen rosa „Winkel“, die Zeugen Jehovas einen lila „Winkel“ und Emigranten einen blauen. Die Kennzeichnung war Teil des Terrors und der Strategie der Nationalsozialisten, den Menschen ihre Identität zu nehmen. Mit Hilfe der Kennzeichnungen schafften die Nationalsozialisten eine „Häftlingsgesellschaft“.
Die „Häftlingsgesellschaft“ war eine Zwangsgemeinschaft von Menschen, die sich weder den Aufenthaltsort, die Lebens- und Arbeitssituation noch die Mitmenschen aussuchen konnten. Es waren Massensituationen, in denen sich die Einzelnen im Angesicht von Terror und entgrenzter Gewalt behaupten mussten. Auf engstem Raum kamen Menschen zusammen, die sich in ihrer sozialen, ethnischen, nationalen und religiösen Herkunft, aber auch hinsichtlich des Bildungsniveaus und der politischen Sozialisation stark unterschieden. Dass sich in dieser Zwangssituation eine solidarische Gemeinschaft aller Häftlinge hätte bilden können, war unwahrscheinlich. Tatsächlich entwickelte sich ein Zusammenhalt, der sich häufig auf die eigene Gruppe bezog und durch gemeinsam empfundene Eigenschaften bestimmt war.
Es waren politische, religiöse, kulturelle, ethnische oder nationale Gemeinsamkeiten, die hier jenseits der fremdbestimmten Einordnung in Gruppen mit Hilfe der „Winkel“ entscheidend waren. Das eigene Selbstbild musste besonders in der Zwangsgemeinschaft eines Konzentrationslagers bewahrt werden, um das Überleben zu ermöglichen. Um eine Solidarisierung aller Häftlinge zu unterbinden, nutzten die Nationalsozialisten zudem stereotype Vorurteile gegenüber den „Anderen“. Diese Methode rückte die „Asozialen“ als Häftlingsgruppe in die Nähe von Kriminellen.
Die Häftlinge, die als „Asoziale“ in die Konzentrationslager kamen, bildeten in manchen Lagern zeitweise die größte Häftlingsgruppe. Die willkürlich zusammengewürfelte Häftlingsgruppe bestand aus gesellschaftlichen Außenseiter:innen, die ein geringes soziales Kapital einte. Das erschwerte zum Beispiel die Bildung eines Netzwerks oder von Zweckbündnissen innerhalb der Lagermauern. Es fehlten die Kontakte, die ihnen den Zugang zum Beispiel zu besseren Arbeitskommandos ermöglicht und damit die Chancen zum Überleben gesteigert hätten. Die Häftlinge mit dem schwarzen „Winkel“ hatten – im Gegensatz beispielsweise zu den politisch Verfolgten Kommunisten oder Sozialdemokraten – keine gemeinsame Weltanschauung, aufgrund derer sie eine gemeinsame Handlungsstrategie und einen Zusammenhalt hätten entwickeln können. Es drohte Vereinzelung, die wiederum die Chance des Überlebens schwächte. Bei der Häftlingsgruppe der „Asozialen“ machte das rassenhygienische Denken der Nationalsozialisten keine Ausnahme: Das aus nationalsozialistischer Sicht „rassisch minderwertige“ Erbgut sollte dauerhaft aus der „Volksgemeinschaft“ beseitigt werden. So wurden Frauen und Männer, die als „asozial“ inhaftiert waren, den Menschenversuchen in den Konzentrationslagern zugeführt, was vielen den sicheren Tod brachte.
Die fremdbestimmte Stigmatisierung durch die Nationalsozialisten als „asozial“, die die tatsächliche Heterogenität der Häftlingsgruppe überging, verhinderte nach 1945, sich als eine Verfolgtengruppe zu verstehen. Zu unterschiedlich waren die Lebens- und Arbeitsumstände der Betroffenen, die zur Deportation in ein Konzentrationslager geführt hatten. Fortbestehende Vorurteile gegenüber der Häftlingsgruppe der „Asozialen“, fehlendes soziales Kapital sowie wenige Fürsprecher:innen erschwerten es dieser Verfolgtengruppe, nach 1945 in der Auseinandersetzung um die Entschädigung der NS-Willkür eigene Forderungen zu formulieren.
Wiedergutmachung und Entschädigung
Wiedergutmachung meint den materiellen Ausgleich des nationalsozialistischen Unrechts in Form von Rückerstattung des von den Nationalsozialisten entzogenen Eigentums und des Vermögens an die ursprünglichen Eigentümer und ihre Erben sowie von Entschädigungen. Entschädigung umschreibt dabei die Leistungen, die anerkannten NS-Verfolgten und ihren Hinterbliebenen zum Beispiel als Einmalzahlungen oder Renten für Schäden gezahlt werden, die auf die Verfolgung vor 1945 zurückzuführen sind. Es sind Schäden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen sowie im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen.
Die Entschädigungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland
Nach 1945 waren zunächst die Besatzungsmächte und die Länder für die Zahlung von Leistungen an NS-Verfolgte zuständig. Hier wurden erste Marken bezüglich der Verfolgtengruppen gesetzt, die einen Anspruch auf eine Entschädigung haben sollten. Es wurden Menschen entschädigt, die die Nationalsozialisten aufgrund der nationalsozialistischen Rassenideologie, den religiösen oder politischen Überzeugungen der Betroffenen verfolgt hatten. Auf diesen Personenkreis bezog sich auch das Bundesentschädigungsgesetz (BEG), das 1953 in der Bundesrepublik in Kraft trat. Unabhängig davon, ob das an Millionen Menschen begangene Unrecht der Nationalsozialisten überhaupt „wiedergutgemacht“ werden kann, sind die materiellen Schadensersatzleistungen wichtig für die Betroffenen und ihre Hinterbliebenen, die mit den Erinnerungen an die Verfolgung leben müssen. Nicht nur juristisch und materiell, sondern auch symbolisch wird das persönliche Verfolgungsschicksal wahrgenommen. Diese Anerkennung des Schicksals blieb denjenigen, die als „Asoziale“, als „Gemeinschaftsfremde“, als „Minderwertige“ verfolgt wurden, lange vorenthalten. Das trug dazu bei, dass viele Vorurteile gegenüber als „asozial“ Verfolgten in der Bundesrepublik Deutschland fortbestehen konnten.
Bei der Definition, wer als NS-Verfolgte:r zu gelten habe, spielte die Verfolgungsperspektive der Täter eine wichtige Rolle, was zur Verzerrung des Blicks auf die Vielfalt der Verfolgtengruppen führte. Zudem sollte nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts des sich verschärfenden „Kalten Kriegs“ eine zu deutliche Schwächung der westdeutschen Wirtschaft durch zu viele Entschädigungszahlungen verhindert werden.
Die Entschädigung der als „asozial“ verfolgten Menschen
Die als „asozial“ Verfolgten teilten als Personenkreis das Schicksal anderer Verfolgtengruppen, die lange keinen Anspruch auf eine Entschädigung hatten, wie Homosexuelle oder Deserteure. Gemeinsam war diesen Menschen, dass sie auch nach 1945 vielen Vorurteilen in der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt waren. Für die Gruppe der als „asozial“ Verfolgten war es nicht einfach, gemeinsam Entschädigungsansprüche zu formulieren: Zu unterschiedlich waren die Einzelschicksale mit den individuellen Lebens- und Arbeitsweisen, die zur Inhaftierung in einem Konzentrationslager führten. Zu den schon vor der Verfolgung gemachten schwierigen Erfahrungen als gesellschaftliche Außenseiter kamen die Demütigungen und die Gewalterfahrungen durch die Verfolgung hinzu – Erlebnisse, die keinen Raum in der nach vorne gerichteten Atmosphäre des westdeutschen Wiederaufbaus hatten. Letztlich spiegelte sich in der Nachkriegsgesellschaft der schwache Status der als „asozial“ Verfolgten in der Häftlingsgesellschaft im Konzentrationslager wider: Im Gegensatz zu anderen Verfolgtengruppen fehlten den als „asozial“ Verfolgten die einflussreichen Fürsprecher.
Das wandelte sich erst allmählich – vor allem seit den 1980er Jahren. Der Kreis derer, die als NS-Verfolgte wahrgenommen wurden, erweiterte sich: Zunehmend wurden die Perspektiven der Opfer berücksichtigt. Wessen Würde und körperliche Unversehrtheit durch die Nationalsozialisten geschädigt wurde, konnte fortan als NS-Verfolgte/r gelten. Vor diesem Hintergrund wurde die Entschädigung für die zahlreichen ‚vergessenen‘ Opfer möglich. Als „asozial“ verfolgte Menschen konnten Leistungen nach den Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG-Härterichtlinien) beantragen. Auch aus dem Fonds zur Entschädigung für Zwangs- und Sklavenarbeit, der in den frühen 2000er eingerichtet wurde, konnten Leistungen bezogen werden, sofern der Nachweis gelang, dass Zwangsarbeit erbracht werden musste. Doch auf eine öffentliche Anerkennung der Verfolgungsschicksale durch den Deutschen Bundestag als „Asoziale“ mussten die wenigen noch lebenden Betroffenen und ihre Nachkommen bis 2020 warten.
Ilse Heinrichs Wunsch, nach der Schule Säuglings- oder Schiffsschwester zu werden, erfüllt sich nicht. Sie muss ihr Zuhause verlassen und in der Landwirtschaft arbeiten. Ilse flieht immer wieder von dem Bauernhof, wird geschnappt und zurückgebracht. Aus nationalsozialistischer Sicht gilt Ilse als „arbeitsscheu“ und „asozial“. 1943 kommt sie in das Arbeitshaus in Güstrow in Mecklenburg, 1944 in das KZ Ravensbrück.
Autorin: Dr. Ann-Katrin Thomm
Porträt Ilse Heinrich 1947
Porträt Ilse Heinrich 1947, mit freundlicher Genehmigung Christina Moik.
Schwarzer Winkel
Unused black triangle concentration camp patch found by a US military aid worker. Object, Accession Number: 1989.295.11. United States Holocaust Memorial Museum Collection, Gift of Milton L. Shurr.
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